«Mama war ein Callgirl – ich habe ihr ­verziehen»

In der Schule hatte Michael Bijnens als einziges Kind nie ein Pausenbrot dabei. Tagsüber schlief seine Mutter, nachts arbeitete sie. Mit 15 erfuhr er warum: Sie ging anschaffen und empfing ihre Freier – während er nebenan in seinem Zimmer war.

Wenn Michael Bijnens an seine Kindheit denkt, fallen ihm oft die fremden Männer ein, die mit seiner Mama Sabine im Schlafzimmer verschwanden. Er erinnert sich an die komischen Geräusche, die aus dem Zimmer kamen. Warum das so ist, traut sich der kleine Michael nicht zu fragen.

Als er 15 Jahre alt ist, sagt seine Mutter (heute 47) zu ihm: «Ich bin eine Prostituierte. Ist das okay für dich?» Für die Antwort wird Michael Bijnens (heute 27) Jahre brauchen. Er wird 1990 in Antwerpen (Belgien) geboren. Kurz nach seinem achten Geburtstag verlässt sein Vater die Familie. Seine Mutter ist plötzlich alleinerziehend, ohne berufliche Ausbildung. Oft kann sie die Miete nicht zahlen. «Wir sind deshalb alle sechs Monate umgezogen», erinnert er sich in der «Bild am Sonntag».

Die beiden ersten Freier zahlen Sabine für wenige Stunden mehr, als sie sonst in einem Monat verdienen könnte. «Ich war so naiv. Heute weiss ich: Es gibt keine glücklichen Huren.» Michael ist von nun an auf sich gestellt. Seine Mutter schafft nachts an, tagsüber schläft sie. Anfangs steht er morgens noch vor ihrem Bett und versucht, sie zu wecken. Bald gibt er auf. «Ich stellte mir damals oft vor, mein Leben wäre nicht echt», sagt er. Nur so kann er die Realität ertragen. Er flüchtet sich in Bücher, verbringt Stunden in der Bibliothek. Er versucht, nicht darüber nachzudenken, was seine Mutter jeden Tag macht.

Mit 15 dann der Tag, an dem seine Mutter ihm sagt, womit sie ihr Geld verdient. Er erinnert sich nicht gern daran, vieles habe er vergessen. Am heftigsten trifft Michael, dass er im Alltag auf sich allein gestellt ist: «Schlimmer, als ein Hurensohn zu sein, war es, der einzige Junge in der Schule zu sein, der nie ein Pausenbrot dabei hatte.»

Mit 18 Jahren will Michael Bijnens aber mehr erfahren und mehr über seine Mutter wissen. Sabine arbeitet mittlerweile in einem Bordell, nicht mehr in der eigenen Wohnung. Er geht dort hin, trinkt Whisky, sieht sich die Freier an. Er fragt erstmals nach, was seine Mutter in ihrem Beruf erlebt. Er will sie verstehen. Doch irgendwann hängt er selbst stundenlang im Bordell herum, probiert auch Sex mit Prostituierten aus.

Dann erkennt er, dass seine eigene Welt anders aussehen soll und geht nicht mehr hin. Er studiert Theaterwissenschaften und baut sich ein Leben ausserhalb des Rotlichtmilieus auf. Eines Tages soll er ein eigenes Stück an der Uni aufführen, doch sein Hauptdarsteller springt ab. «Es gab nur einen Menschen, der so mutig und so verrückt war, kurzfristig einzuspringen – meine Mutter», sagt er der «Bild am Sonntag». Michael Bijnens will nun ihr Leben auf die Bühne bringen.

Und dafür erzählt sie ihm alles: Wie sie zur Prostituierten wurde, wie es ist, mit einem Freier Sex zu haben, während das Kind nebenan schläft, und wie verzweifelt sie oft ist, dass sie nicht mehr aus -ihrem Leben gemacht hat. «Meine Mutter und ich haben was zu sagen», denkt er. Zum ersten Mal schämt er sich nicht mehr. Kurz danach schafft Sabine den Absprung. Sie hat genug davon, von ihrem Zuhälter bedroht und geschlagen zu werden. Zehn -Jahre nach der ersten Nacht als Prostituierte entscheidet sie sich, aus dem Rotlichtmilieu zu fliehen. Heute arbeitet sie in einer Bar, hat seit Kurzem einen neuen Freund.

Michael hat ein Buch über das Leben seiner Mutter veröffentlicht. Er hat ihr auch vergeben. Sie hat viele Fehler gemacht, aber sie ist seine Mama. «Egal, wie oft ich mich geschämt habe. Egal, wie oft ich meine Mutter vermisst habe, ich habe ihr alles verziehen.»