Zwänge machten ihr das Leben zur Hölle

Nina Moser aus dem Kanton Aargau litt unter einem Wasch- und Kontrollzwang. Sie erzählt, wie sie erfolgreich dagegen ankämpfte.

Jetzt komm endlich raus», ruft die Mutter aufgebracht, «ich muss dringend ins Bad.» Nina steht in ihrem Elternhaus in ­Baden AG unter der Dusche. Schon über eine Stunde – und weint. Ein weiteres Mal greift sie nach dem Duschgel, denn sie fühlt sich noch immer schmutzig. Sie weint aus Verzweiflung, weil ihr eine innere Stimme zuflüstert: «Dusche nochmals, du stinkst!»

Nina Moser leidet an einer tücki­schen Krankheit: Zwangs­störungen. Schon in der Pubertät entwickelte sich in ihr ein extremer Kontroll- und Waschzwang, der sie zunehmend vom realen Leben abtrennte und ihr see­lisches Gleichgewicht erschütterte. Eine Zwangsstimme steuerte und kontrollierte ihre Gedanken und Handlungen; Nina nennt sie «Hexe». «Diese Feindin in mir kämpfte gegen mich. Sie zwang mich, absurde Dinge zu glauben und wertete mich ständig ab», beschreibt sie. «Es war ein innerer Konflikt, der ­immer stärker wurde und mein Leben überschattete. Ich hasste sie.»

Inzwischen hat sie zur «Hexe» ein entspannteres Verhältnis gefunden. «Es bringt nichts, mit ihr zu streiten. Es kann nicht besser werden, denn die ‹Hexe› in mir repräsentiert letztlich nur mein seelisch verletztes Ich. Es ging mir besser, nachdem ich Frieden mit ihr geschlossen hatte.»

Wer an Zwangsstörungen leidet, vertraut seiner eigenen Wahrnehmung, seinen Augen und seinem eigenen Verstand nicht mehr. Ninas Störungen kamen zum Teil wie aus dem Nichts, wurden aber auch durch traumatische Erlebnisse in der Kindheit ausgelöst. Beim Kontrollzwang war es beispielsweise der Kochherd, den sie mehrmals kontrollierte, ob sie ihn auch wirklich abgestellt hat. «Dieser Zwang entstand, weil ich vor Jahren in einem Ferienhaus vergass, den Gasherd abzustellen. Und nachher Angst hatte, dass ich durch meine Unachtsamkeit die Küche, ja das ganze Haus in Brand hätte setzen und dadurch meine Familie gefährden können.» Sie realisierte erst später, dass diese Zwänge die Folge von erlebten oder ein­gebildeten Ängsten sind.

Die heute 22-Jährige litt auch an ADS. Laut Studien können solche Patienten vermehrt zu Angstzuständen und Zwangsstörungen neigen. Sie hatte zudem Essstörungen. «Es gab Zeiten, in denen ich mich vor meinen Ausscheidungen ekelte. Auch nach dem Verbrauch einer ganzen Rolle WC-Papier fühlte ich mich immer noch beschmutzt.» Um nicht auf die Toilette zu müssen, ass sie fast nichts mehr, nahm stark ab. Erst als sie am Rand eines körperlichen Zusammenbruchs stand, begann sie wieder normal zu essen. Ihre Familie und Freunde halfen ihr, durch diese dunklen Jahre zu kommen. «Ich bin meinen Eltern sehr dankbar, denn sie hatten es während meiner schlimmsten Zeit nicht einfach mit mir.»

Nina Mosers Zwangsstörungen wirkten sich auch auf ihre Schulzeit aus. Weil sie wegen innerer Blockaden oft Fragen der Lehrer nicht beantworten konnte, hielten ihre Mitschüler sie für dumm, und öfter wurde sie auch von Lehrern blossgestellt. «Das hat sich bei mir eingebrannt, und ich wollte mir beweisen, dass das nicht stimmt.» Sie entwickelte einen krankhaften Lerndrang und büffelte während ihrer Krise Tag und Nacht. «Ich brachte Bestleistungen, seelisch aber ging es mir schlecht.» Ihre Zwangsstörungen sind inzwischen weniger stark als im Alter zwischen 15 und 19 Jahren. Heute studiert sie an der Universität Zürich Germanistik sowie Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft.

Nina war einige Zeit in einer geschlossenen Selbsthilfegruppe. Vor allem eine Frau aus der Gruppe ermutigte sie, die Hoffnung nicht aufzugeben, ihr Leben in den Griff zu bekommen. «Das gab mir Kraft, ein lang gehegtes Projekt anzupacken: ein Buch über mein Leiden zu verfassen.» Denn schon im Sommer 2020 schrieb sie über ihre Zwangsstörungen und holte sich mit ihrem Werk «Zwanghaft» die Auszeichnung als beste Maturaarbeit des Kantons Aargau. «Aber erst als die Maturaprüfung anstand, war ich psychisch stabiler, selbstbewusster und konnte über mein Leiden schreiben.» Im Zuge der Recherchen bemerkte sie, dass es viele Menschen gibt, die Zwangsvorstellungen haben. Doch kaum jemand redete darüber. «Ich wollte dieses Schweigen durchbrechen. Meine Matura­arbeit und das daraus entstandene Buch sind ein Schritt dazu.» Durch ihr Werk erzielte Nina Moser zwei Effekte. «Ich konnte meine Krankheit niederschreiben und damit weitgehend loswerden – und gleichzeitig andere Betroffene ermuntern, darüber zu reden.»