Ihr Mann war ein Missbrauchsopfer

Lange Zeit ahnte Anke nicht, warum ihr Gatte so litt. Als sie die Wahrheit erfuhr, hatte sie keine Ahnung, was noch auf sie zukommen würde.

Der Missbrauch zieht sich wie ein dunkler Faden durch unsere Familie», sagt Anke Schmitz (54) aus dem westfälischen Rhede (D). «Die Belastung war häufig enorm.» Als sie vor fast 30 Jahren den Tischler und selbständigen Möbeldesigner Martin kennenlernt, ahnt sie nicht, dass ein düsteres Geheimnis auf dem heute 60-Jährigen lastet. Erst als die beiden heiraten wollen, Anke sich eine kirchliche Trauung wünscht, lässt Martin sie hinter die sorgsam gehütete Fassade blicken: Als zehnjähriger Messdiener wurde er von einem Priester immer wieder vergewaltigt. Ein Martyrium, das zwei Jahre andauerte und erst mit der Versetzung des Geistlichen endete.

Die kirchliche Atmosphäre der Hochzeitszeremonie lässt in Martins Innerem die furchtbaren Erlebnisse wieder lebendig werden. Ihr Mann verändert sich danach, wirkt zunehmend ruhelos, nervös und reagiert oft barsch. Er sucht Ablenkung, stürzt sich in die Arbeit und in immer exzessiveres Velofahren.

Es klappt, zumindest äusserlich. Die Firma ist erfolgreich, Martin auf den ersten Blick ein «Macher». Doch immer wieder kommt es zu Zwischenfällen. Er bricht unvermittelt zusammen, weint, hat krampfartige Schmerzen. «Du brauchst Hilfe», sagt Anke oft, doch ihr Mann schüttelt genauso häufig den Kopf. Er will sich den schlimmen Erinnerungen nicht beugen, im Gegenteil.
Er will stark bleiben, Anke ein verlässlicher Ehemann und den beiden Söhnen ein stabiler Vater sein. Sein Leben wird zu einem Auf und Ab. Manchmal leidet er an Depressionen und liegt tagelang apathisch im Bett.

Zeitgleich dringen immer mehr erschütternde Infos zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche in die Medien. Martin stellt einen Antrag auf eine Entschädigungsleistung, wagt sogar den Schritt an die Öffentlichkeit. Und die Erinnerung wird immer stärker, seine Ausfälle immer häufiger. «Ich habe mich oft alleingelassen gefühlt», erzählt Anke. Irgendwann trudelt die Ehe in die Krise, und beide leben, vom Alltag ausgefüllt, nur noch nebeneinander her. Das ändert sich an einem Abend vor sieben Jahren, als Martin zuckend im Wohnzimmer zusammenbricht und kaum noch ansprechbar ist. Der Notfall-Mediziner drängt zur Therapie, und Martin willigt ein. Ein Wendepunkt, denn von Sitzung zu Sitzung geht es bergauf.

Und er beginnt, um Aufklärung und Gerechtigkeit zu kämpfen. «Ich wollte, dass die Kirche Farbe bekennt und zu ihren Versäumnissen steht», erklärt Martin. Denn der Täter war bereits vorbestraft und hätte nicht mehr mit Kindern arbeiten dürfen. Erst als auf einer öffentlichen Veranstaltung ein Bistumsvertreter die Versäumnisse eingesteht, fühlt er sich besser.

Heute steckt er seine Energie in eine Selbsthilfegruppe. Und er ist absolut offen. «Ich verdanke Anke alles, sie hat mich ertragen, ohne sie und die Kinder würde es mich längst nicht mehr geben.»