«Ich bin die Mutter eines Amokläufers»

Ihr Sohn Dylan schoss an einer US-High-School um sich, tötete zwölf Mitschüler und einen Lehrer. Die Mutter sucht noch immer nach den Gründen.

Für die Pädagogin Sue Klebold (68) war ihr Dylan ein ganz normaler Teenager mit den typischen Stimmungsschwankungen eines Pubertierenden. Als sie am Morgen des 20. April 1999 früher als üblich aufwachte, dämmerte es noch. Während sie sich anzog, hörte sie, wie Dylan mit schweren Schritten die Treppe herunterkam und zur Haustür eilte, obwohl er sonst morgens nur widerwillig aufstand. Sie öffnete die Schlafzimmertüre und hörte von ihm nur noch ein kaltes «Bye». Danach schlug er die Haustüre hinter sich zu. Sie beschloss, sich am Abend mit ihrem Sohn zusammenzusetzen und ihn zu fragen, ob etwas nicht stimmt.

Wenige Stunden später meldeten die Nachrichtenagenturen, dass zwei Schüler die Columbine High School im amerikanischen Bundesstaat Colorado mit Gewehren und Sprengstoff betreten hatten. Dort töteten sie zwölf Schüler und einen Lehrer, verletzten 24 weitere Menschen und nahmen sich dann selbst das Leben. Es ist einer der schlimmsten Schul-Amokläufe der Geschichte. Einer der Attentäter war ihr Sohn Dylan.

Erst als Sue Klebold ihn zwei Wochen später auf dem Titelbild der Zeitschrift «Time» mit der Schlagzeile «Das Monster von nebenan» sah, begriff sie, was geschehen war. «Das war der Beginn von einem der fürchterlichsten Albträume, den man sich vorstellen kann – und der nie ein Ende finden wird», sagt Sue Klebold. An vielen Tagen erschienen ihr, ihrem Mann Tom und ihrem zweiten Sohn Byron das Sterben leichter als das Leben. «Wir sprachen alle drei ständig von Tod, Asche und Grabsprüchen», erinnert sie sich.

Wie soll man leben mit dieser ungeheuren Schuld? Mit dem Gefühl, mitverantwortlich zu sein für das Massaker, das ihr Sohn († 17) und sein Freund Eric Harris († 18) angerichtet haben? Heute, 17 Jahre später, versucht Sue Klebold in ihrem Buch «Liebe ist nicht genug» eine Antwort zu geben – obwohl die Lehrerin für behinderte Kinder nicht begreifen kann, wie ihr Sohn ein derartiges Unheil anrichten konnte. Vor allem, weil sie ihn mit viel Liebe und Zuneigung grossgezogen hatte. «Ich hatte mich für eine gute Mutter gehalten. Ich liebte meinen Sohn und war stolz auf ihn.» Sie beschreibt Dylan als ganz normalen Teenager. Er hatte Freunde, war fröhlich, interessierte sich für Baseball, schrieb gute Noten und wollte studieren. «Ich hatte immer geglaubt, dass ich aufgrund meines engen Verhältnisses zu meinen Söhnen spüren würde, wenn etwas schieflief. Aber damit habe ich falsch gelegen.»

Sie hatte zwar Veränderungen ihres Sohnes bemerkt. So war sie schockiert, als sie erfuhr, dass er mit Eric Computerteile gestohlen hatte und von der Polizei gefasst worden war. Allerdings deutete sie das als Zeichen seines Erwachsenwerdens. Obwohl sie sich an jedes Gespräch, an jede noch so kleine Begebenheit mit ihm erinnert, ist sie sich sicher: Es gab keine offensichtlichen Hinweise, dass er so einen zerstörerischen Akt plante. Auf die Frage, was in seinem Kopf vor sich ging, hat sie keine Antwort. Aber sie weiss heute, dass Dylan an schweren Depressionen litt.

Er wollte sterben, sein Mittäter Eric wollte töten. Die Polizei hatte Sue später die verstörenden Videoaufnahmen gezeigt, die Eric und Dylan von sich gemacht hatten. Darin nahm Dylan Abschied, sagte ganz leise: «Ich weiss, dass ich an einen besseren Ort gehe. Ich mochte das Leben nicht besonders!»

Ihren Sohn liebt Sue noch immer. Dass sie nicht bemerkt hat, was mit ihm falschlief, kann sie sich aber nicht verzeihen. «Ich habe das geschehen lassen. Meine Rolle war es, ihn und auch andere zu schützen. Und irgendwie ist das meinetwegen passiert, weil ich nicht in der Lage war, es zu verhindern.» Heute engagiert sie sich für depressive Jugendliche, um weitere Tragödien abzuwenden.

Dylan vermisst sie jeden Tag. «Ein Mutterherz ist unzerbrechlich», meint sie. Doch sie sagt auch: «Liebe ist nicht genug. Meine Liebe zu Dylan hat weder ihn geschützt noch die Menschen, die getötet wurden.»

Buchtipp

Sue Klebold: «Liebe ist nicht genug», S. Fischer Verlag, Fr. 22.90. Die Einnahmen gehen an Organisationen für psychisch Kranke.