Zuneigung dank Alzheimer

Die fehlende Beziehung zur Mutter ist ein Thema, das sich durch das ganze Leben von Cristina Karrer zieht. Erst als die Mama erkrankt, ändert sich alles.

Nach der frühen Scheidung ihrer Eltern lebt Cristina Karrer (57) bei diversen Verwandten, landet schliesslich in einem Internat. Erst als sie 15 ist, holt ihre Mutter – eine für damalige Verhältnisse moderne, mondäne Frau – sie zu sich. Cristina merkt schnell, dass dies kein Zuhause ist, sondern eine Frauen-WG. Mütterliche Zuwendung erfährt sie nach wie vor keine.

Die Zürcherin zieht es in die Welt hinaus. Sie arbeitet als Journalistin, seit 17 Jahren als Südafrika-Korrespondentin. Sie liebt ihr Leben in Johannesburg, wo sie mit ihrem Partner wohnt. 2011 erkrankt Cristinas Mutter Ursula an Alzheimer. «Ich wollte verhindern, dass sie in ein Heim kommt, deshalb holte ich sie vor drei Jahren zu mir», sagt Cristina. «Mami war ein totaler Kopfmensch. Doch je länger die Krankheit andauerte, desto stärker wurde unsere emotionale Verbindung.»

Erstmals kann sie Ursula in den Arm nehmen, Zärtlichkeiten austauschen. «Für Alzheimer-Kranke gibt es kein ‹Das tut man nicht›. Mami würde Wein aus der Milch-Kanne trinken. Alle diese Dinge sind bedeutungslos, das ist total befreiend.» In Südafrika kann sich Cristina Angestellte leisten, die auf die 81-Jährige aufpassen. Diese fühlt sich wohl, ist gerne draussen, mag ihre junge Pflegerin, die sie überallhin mitnimmt.

Endlich sind Mutter und Tochter glücklich vereint, und Cristina will ihren Partner heiraten. Da passiert das Unerwartete: Man zwingt sie zur Ausreise aus Südafrika. «Ein kleineres Delikt von 2009 tauchte wieder in den Akten auf. In all den Jahren war mein Visum aber stets problemlos erneuert worden.» Es folgt ein endloser Rechtsstreit, der Cristina an den Rand ihrer Kräfte bringt. Nur zwei Jahre durfte sie mit Ursula in Johannesburg geniessen!

Welch bittere Ironie des Schicksals! Die Seniorin sitzt in Südafrika fest, und Cristina darf das Land nicht betreten. Die Mutter in die Schweiz zurückzuholen, erweist sich als schwierig. «Ich habe sie seit einem Jahr nicht gesehen», sagt sie beim Treffen mit der GlücksPost. Kurz darauf erhält sie endlich die Bestätigung: Ursula kommt – noch diesen Monat. «Ich habe keine Ahnung, wie sie reagieren wird, ob sie mich überhaupt erkennt.» Wird es in der Schweiz einen zweiten Neuanfang für die beiden geben? «Ich weiss es nicht. Aber Mami hatte drei gute Jahre in Südafrika, und wir haben uns wiedergefunden. Dafür bin ich dankbar.»

Buch

Cristina Karrer: «Meine Mutter, ihre Liebhaber und mein einsames Herz» (Orell Füssli). ISBN 978-3-280-05681-3. Auch als eBook.