Wunder dauern manchmal etwas länger

Sie werde nie wieder gehen können, sagten die Ärzte vor zehn Jahren zu Kerstin, sie solle sich an ein Leben ­im Rollstuhl gewöhnen. Heute geht sie mit ihrem Hund Marley Gassi. «Ich habe das Unmögliche geschafft!»

Das Wort «nie» gibt es für Kerstin (52) nicht. Die Coiffeuse aus Westfalen hat es schon vor Jahren aus ihrem Wortschatz gestrichen. «Damit setzt man sich Grenzen, das ist nicht gut», meint sie selbstbewusst. Sie werde nie wieder laufen können, sagten ihr die Ärzte vor zehn Jahren, sie solle sich an ein Leben im Rollstuhl gewöhnen. Heute geht sie mit ihrem Hund Marley wieder spazieren.

Kerstins Geschichte fängt 1998 an. Damals ist sie verheiratet, hat zwei Kinder, Julian und Angelina. Aber warum ist das Mädchen so still? Es hat einen Chromosomen-Defekt, ist geistig und körperlich schwer behindert, müsste eigentlich ins Pflegeheim. Ein Schock!

Kerstin kündigt ihren Job und kümmert sich um ihr Kind. Ihrem Mann wird das zu viel: Er trennt sich von der Familie, als Angelina fünf ist. Kerstin ist nun allein. «Ich hatte furchtbare Angst vor der Zukunft, dachte, das schaffe ich nie. Heute weiss ich, ich bin stark.»

Sie kann nicht zulassen, dass Ange­lina dahinvegetiert, und verbringt Monate im Spital, macht Übungen mit ihr und meistert ­immer wieder die Verzweiflung, wenn die Kleine mit Krämpfen zusammenbricht und Blut spuckt. Über die Jahre verausgabt Kerstin sich so, dass sie selbst krank wird. Doch sie ignoriert die Herzprobleme und das quälende Asthma.

Im Sommer 2004 bricht sie zusammen, wacht halbseitig gelähmt in der Klinik auf. Schlag­anfall mit 39! Statt zur Reha geht sie zurück zu den Kindern. 2007 dann der zweite Schlaganfall. Davon erholt sich Kerstin nicht mehr, es bleiben Teillähmungen in Fuss und Beinen. Das Verdikt heisst Rollstuhl. Dann kommt sie wegen eines technischen Defekts auch noch von der Strasse ab: Ihr Auto überschlägt sich, Kerstin wird aus dem Wrack geschnitten.

Als sie nach Wochen im Spital entlassen wird, sind die Brüche verheilt, aber sie ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Wie soll sie das alles verkraften? «Ich wusste es nicht», sagt sie achselzuckend. «Doch dann habe ich nach vorn geschaut und mir überlegt, was ich noch mit meinem Leben anfangen könnte.» Sie würde gern am Wasser leben, einen Hund haben – fromme Wünsche, wenn man nur eine kleine Rente erhält. Dann erfährt sie von einem Mobilheim an einem See. Kerstin kann da einziehen und erhält über eine Tierschutzorganisation Mischling Marley. «Ein Volltreffer», sagt sie, «auch er ist versehrt, hat ein Loch im Herzen. Doch er ist das Beste, was mir passieren konnte.»

Wie jeder Hund muss Marley Gassi gehen. So rollt Kerstin mit ihm mehrmals täglich um den See. Ihre Arme werden kräftiger – und die Beine? Sie meldet sich im Fitnesscenter an, macht daheim stundenlang Gymnastik. «Bald konnte ich wieder stehen, zwar wacklig, aber immerhin.» Irgendwann wagt sie die ersten Schritte am Rollator, geht raus ins Grüne.

«Marley hat mich nie gezogen, er wusste, ich stehe unsicher.» Mittlerweile verstaubt der Rollstuhl in der Garage. «Ich kann gar nicht sagen, wie schön das ist, es grenzt an ein Wunder.»

Und die Zukunft? «Ich möchte nach zehn Jahren im Rollstuhl wieder am Strand spazieren gehen, bald fliege ich ans Mittelmeer. Das war immer mein Traum.» Und ein zweiter Hund kommt auch. «Jetzt kann ich ja wieder laufen.»