Wie viel Leid kann man ertragen?

Patrizia Maurer hat schwere Schicksalsschläge erlitten – doch sie gab nie auf. Jetzt will die Schweizerin anderen Mut machen.

Mein Sturkopf und mein Glück haben mir geholfen zu überleben», erklärt Patrizia Maurer aus Lenzburg AG lächelnd. Man sieht der 37-Jährigen kaum an, dass sie von schweren Schicksalsschlägen getroffen wurde.

Nach einer glücklichen Kindheit besuchte Patrizia in Thun die Sekundarschule und das Gymnasium. Mit 17 Jahren reiste sie für über ein Jahr nach Kalifornien. Zurück in der Schweiz fand sie in einem Nobelhotel in Interlaken einen Ausbildungsplatz als kaufmännische Angestellte. Patrizia war glücklich.

In der Nacht des 18. Juni 2004 änderte sich das brutal. Patrizia war nach einer Fete auf dem Heimweg. Plötzlich fiel ein Mann über sie her, würgte und vergewaltigte sie. Zum Glück näherten sich zwei Männer. Der Unhold liess von ihr ab, und sie konnte flüchten. «Diese Tat hat mich in meinen Grundfesten erschüttert. Ich empfand Scham, Angst, Trauer, war einsam und hatte Depressionen.» Mit Hilfe ihrer Familie, von Freundinnen und mit psychiatrischer Unterstützung konnte sie wieder einigermassen Fuss fassen.

Der nächste Schlag kam 2010. Während des Joggens verspürte sie einen heftigen Schmerz im linken Oberschenkel und stürzte ganz plötzlich. Im selben Jahr geschah das Gleiche nochmals. Die Ärzte diagnostizierten ein Rückenleiden. Am 18. April 2011 wurde sie operiert. Doch zwei Wochen später kamen die Schmerzen zurück. «In der Notaufnahme beschrieb ich das heftige Stechen und die Spannung des Knochens im Oberschenkel, doch niemand glaubte mir», erzählt Patrizia. Später machte eine Physiotherapeutin die Ärzte auf eine Verhärtung im Oberschenkel der Patientin aufmerksam. «Da ist nichts!», wurde sie barsch zurechtgewiesen.

«Am 18. Juni 2011 ging ich morgens um zwei Uhr auf die Toilette. Doch ich konnte nicht mehr von der Kloschüssel aufstehen», erinnert sich Patrizia «Mein damaliger Freund Roli musste mir helfen. Als ich mich erhob, durchzuckte mich ein fürchterlicher Schmerz, und mein linker Oberschenkelknochen brach.» Im Spital Baden wurde dann endlich geröntgt. Der Befund war niederschmetternd: «Es tut uns leid, aber Sie haben nur noch etwa drei Monate zu leben…», sagte man ihr. «Ich bin erst 28 Jahre alt – einen gebrochenen Knochen kann man doch heilen.» Doch die Ursache des Bruchs war ein Knochentumor im Endstadium.

Doch Patrizia hatte etwas Glück im Unglück. Der zuständige Arzt in Baden erkannte durch seine frühere Zusammenarbeit mit dem Spezialisten Professor Bruno Fuchs, dass es sich bei dem Tumor um eine seltene und extrem aggressive Art namens Ewing-Sarkom handelte. Er erklärte, eine sofortige Operation würde die Bildung von Metastasen beschleunigen und zum schnellen Tod führen. Noch in derselben Nacht kontaktierte er Professor Fuchs, der die Patientin umgehend zu sich nach Zürich verlegen liess. Er schlug vor, den gebrochenen Knochen zu richten und zwei Wochen lang zu fixieren. Anschliessend kämen sechs Zyklen Chemotherapie, gefolgt von einer Operation, um den Knochen und den Tumor zu entfernen und eine Prothese einzusetzen. Danach weitere Chemotherapien und allenfalls Bestrahlung.

«Die Chancen auf Heilung sind allerdings minimal», erklärte ihr Fuchs. «Doch ich wollte um jeden Preis überleben und willigte in die Behandlung ein. Die gesamt 13 Chemotherapiezyklen waren das Schlimmste.» Es war wie ein Wunder: Die Operation verlief erfolgreich, und die Chemotherapie zeigte Wirkung. «Ich war zwar nach all den Monaten massiv geschwächt, im Rollstuhl, voller Chemie, ohne Haare und Nägel und ohne Oberschenkelknochen. Stattdessen hatte ich eine Titanprothese, einen gelähmten Fuss – aber der Krebs war weg!»

Dann der Rückschlag: Nierenversagen und Dialyse. Das nervtötende Warten auf eine Spenderniere begann. Da entschied sich ihre jüngere Schwester Carmen, eine ihrer Nieren zu spenden. 2017 wurde die Transplantation durchgeführt. «Dafür bin ich meiner Schwester unendlich dankbar. Ich bin glücklich, etwas von ihr in mir zu haben.»

Mit Patrizia freut sich auch ihr Verlobter Nici. «Am 13. April 2019 bat er um meine Hand. Ich weinte vor Glück.» Im August 2020 wollten sie in der Toskana heiraten – doch das Corona-Virus durchkreuzte ihre Pläne. Nun wird erst nächstes Jahr Hochzeit gefeiert.

Patrizia Maurer hat langsam in die Normalität zurückgefunden, ist heute fast beschwerdefrei. Die tapfere Frau hat ein Buch mit dem Titel «Überleben» geschrieben. Darin erzählt sie von ihrer Krankheit, ihrem Willen, nie aufzugeben, und von ihrer Genesung. «Es richtet sich an alle, die physische und/oder psychische Probleme haben. Ich will ihnen Mut machen, dem Schicksal die Stirn zu bieten. Wenn das Buch dazu beiträgt, Menschen, die schwierige Zeiten erleben, die Kraft zum Durchhalten zu geben, hat es seinen Zweck erfüllt.»

Buchtipp

Patrizia Maurer: «Überleben», Verlag Werd & Weber, 39 Franken.