Verfolgt von den Schrecken der Vergangenheit

Amy floh mit ihren Eltern aus dem kriegsversehrten Kambodscha und lebt in der Schweiz. Die traumatischen Erlebnisse quälen sie bis heute.

Nachdenklich streichelt die junge Frau ihren Hund und sagt leise: «Über Krieg rede ich ungern, zu sehr haben meine Familie und meine Verwandten darunter gelitten.» Als spürte er die Traurigkeit seines Frauchens, kuschelt sich Idien, das chinesische Wort für «Tröpfchen», an sie.

Suoi Seam Amy Un, von ihren Freundinnen Amy gerufen, ist Kambodschanerin, ihre Grosseltern lebten ursprünglich in China. Sie mussten aber vor Maos Schergen nach Kambodscha flüchten. Amys Eltern kamen in Kambodscha zur Welt. Doch wie unzählige andere gerieten sie ins Visier des Pol-Pot-Regimes. Alle, die keine «reinen» Kambodschaner waren und eine zweite Sprache beherrschten, wurden verfolgt. «Meine Eltern sprachen Kambodschanisch, aber unter sich auch einen chinesischen Dialekt», erzählt die 39-Jährige. «Wer eine Fremdsprache sprach oder sonstige Anzeichen von Intelligenz aufwies, galt als verdächtig und wurde gnadenlos verfolgt.» Pol Pot wollte nur einfache, einheimische Bauern, die arbeiten, gehorchen und nach seinen Plänen das neue Kambodscha aufbauen sollten.

«Rundherum wurden Menschen massakriert. Ein Onkel von mir hatte sich mit seiner Frau und drei Kindern in einem Keller versteckt. Doch sie wurden entdeckt, und die Soldaten warfen einfach eine Handgranate hinein.» Der Diktator liess Hunderttausende von Menschen umbringen. Amys Eltern und viele ihrer Verwandten flüchteten deshalb 1979 durch den Dschungel nach Thailand ins Flüchtlingslager Kawedang. Amy kam in Thailand zur Welt. «Alle hatten sich gefreut, in Sicherheit zu sein. Doch sie täuschten sich.» Nach wenigen Wochen wurden sie auf Lastwagen an die kambodschanische Grenze gefahren und mit vorgehaltenen Gewehren aufgefordert, in ihr Land zurückzukehren, sonst würden sie erschossen.

Doch auch aus ihrem Heimatland wurden sie wieder vertrieben, flüchteten erneut nach Thailand – und fanden endlich Unterschlupf im vom Roten Kreuz errichteten Flüchtlingslager Chon Buri. Dank einer internationalen Hilfsaktion durften Amys Familie, Verwandtschaft und Bekannte als anerkannte Flüchtlinge 1981 in die Schweiz einreisen.

«Ich war drei Monate alt, als wir in einem Lager in Freiburg ankamen», erzählt Amy in reinstem Zürcher Dialekt, «und von dort wurden die einzelnen Familien auf die Schweiz verteilt. Meine Eltern und Verwandte bekamen für ein Jahr ein grosses, altes Haus in Oberrieden zugewiesen und wurden vom Lions Club betreut.» Später zog jede Familie in eine eigene Wohnung in der Umgebung. Amys Eltern fanden Arbeit. Ihr Vater arbeitete in einer Fabrik, ihre Mutter als Kassiererin. Um etwas Geld dazu zu verdienen, verkaufte die Mutter selbstgestrickte Pullover. «Am Anfang bekamen sie fünf Franken Unterstützung pro Woche. Die Kleider wurden gespendet. Fünf Franken scheinen heute wenig, aber für uns, die wir aus einem Kriegsgebiet kamen und nichts besassen, war es viel. Wir hatten gelernt, mit sehr wenig zufrieden zu sein.»

Amy hat einen drei Jahre älteren und einen drei Jahre jüngeren Bruder. «Meine Mutter hat ein Kind in Kambodscha in Folge körperlicher Entbehrung verloren und später eines in der Schweiz».

Als Amys Mutter mit ihr schwanger war litt sie unter Nahrungs- und Wassermangel und den unglaublichen Strapazen während der Flucht und in den Lagern. Daher rühren laut Ärzten wahrscheinlich auch Amys gravierende gesundheitliche Probleme. Sie führten dazu, dass sie in der Arbeitswelt nie richtig Fuss fassen konnte und immer wieder mit Rückschlägen konfrontiert wurde.

«All das, was meine Mutter damals durchstehen musste, hat sich offenbar auf mich ausgewirkt. Ich hatte einen Tumor, den man lange nicht entdeckte und der zu Muskelschwund führte. Erst als ich 15 Jahre alt war, wurde er von den Ärzten geortet, und ich wurde notfallmässig operiert. Noch heute sauge ich alle Krankheiten auf wie ein Schwamm. Ich werde krank wie andere auch, nur werde ich die Erreger nicht mehr los, weil mein Immunsystem geschwächt ist.»

Seit 1994 ist Amy Schweizerin und wohnt in Horgen. «Ich lebe gerne in der Schweiz. Meine Familie und ich sind dankbar dafür, dass man uns damals hier aufgenommen hat.» In der Familie reden sie nicht viel über die damaligen Gräuel, denn ihre Eltern versuchen bis heute, die Schrecken des Krieges zu verdrängen.

Sie schaut auf den Zürichsee und sagt: «Ich träume von einer besseren Zukunft. Davon, dass die Menschen endlich lernen, friedlich miteinander umzugehen.»