Ur-Oma Adelheids letztes Rendez-vous

Zehn Jahre hat die einsame Adelheid ihre Wohnung nicht verlassen, weil sie schwer krank ist. Jetzt gab es den ersten Ausflug – ans Grab ihres geliebten Mannes.

Adelheid O. aus Berlin hat sich schön gemacht: Samtanzug mit cremefarbenen Bordüren, um die Schultern ihr alter Pelz, trotz sommerlicher Temperaturen. Die 95 Jahre alte Dame sitzt im Rollstuhl am Grab ihres verstorbenen Mannes Boris. Es ist das letzte Rendez-vous. Tränen laufen über ihr Gesicht. Es sind Freudentränen: weil sie es noch einmal hierher geschafft hat, bevor die letzte Ruhestätte ihrer grossen Liebe im Herbst eingeebnet wird.

Dabei wohnt Adelheid O. nur vier Kilometer vom Friedhof entfernt. Doch es ist das erste Mal seit zehn Jahren, dass die gehbehinderte Seniorin ihre Wohnung verlassen kann. Ansonsten ist jeder Tag  gleich wie gestern und vorgestern. In ihrer Wohnung versickert die Zeit. Seit 60 Jahren lebt sie im Altbau. Die 39 Stufen bis zur Haustür schafft sie nicht allein. «Deshalb musste ich auch meinen Yorkshire Terrier Isy abgeben», erzählte sie der «Bild»-Zeitung. Sie hat das Hündchen geliebt, konnte es streicheln und mit ihm sprechen, wenn sie sich allein fühlte.

Neben ihrem Mann hat sie auch ihre Tochter verloren, die Enkel leben irgendwo, die Urenkel hat sie noch nie gesehen. Regelmässig kommt zwar der Pflegedienst, der ihre Beine wäscht, cremt und wickelt. Sonst herrscht Stille in der Wohnung. «Mein Betreuer, der sich um die Behördensachen kümmert, kommt viel zu selten. Ich bin nur noch traurig. Aber manchmal auch wütend.»

Ihr bleiben 500 Euro zum Leben. Sie isst morgens zwei Eier, dazu Kaffee. Mittags Maggi-Brühe, das geht schnell. Abends gibt es Toast oder ein belegtes Brötchen. Geliefert werden die Lebensmittel vom Supermarkt um die Ecke.

Adelheid O. hat vor Jahren letzmals den Fernseher eingeschaltet, und das Radio verstaubt. Bis vor einigen Jahren erhielt sie oft Besuch von einem Enkel: «Doch dann gab es Streit, das tut so weh. Jeden Tag denke ich daran, jede Nacht. Ich war immer für alle da, die Familie war mein Ein und Alles. Und nun bin ich abgestellt und verlassen», sagte sie weiter zur «Bild»-Zeitung.

Bis zur Rente pflegte sie in einem Heim kranke Menschen. 60 Patienten auf drei Etagen, immer Nachtschicht, um tagsüber für ihren Ehemann, der auch nicht gesund war, sorgen zu können. Adelheid O. ist heute selber schwer krank: kaputte Venenklappen und Thrombose in beiden Beinen, Herzinfarkt, Gelenke abgenutzt, Diabetes, Rheuma. «Ich habe fast alles. Doch im Kopf bin ich noch klar.»

Meistens verbringt sie ihre Tage auf dem Krankenbett, schaut einfach nur geradeaus. Doch in ein Heim will sie nicht: «Ich bin hier zu Hause.» Als Medien ihren Fall öffentlich machten, gab es für Adelheid O. eine Welle des Mitgefühls, und ihr letzter Wunsch wurde erfüllt. Vor kurzem war es so weit: Vier Pfleger brachten sie die zwei Stockwerke hinunter, ein Krankentransporter wartete, ein Leihdienst stellte den Rollstuhl bereit. Eine Floristin hatte das Grab hergerichtet, ein Pfarrer hielt eine kleine Andacht. Am Ende blieb Adelheid O. ein paar Minuten am Grab sitzen, streichelte die Blumen, schaute zum Himmel. Dort wäre sie gerne bei ihrem geliebten Boris.

Aber manchmal glaubt sie, dass auch der Tod sie vergessen hat.