Tochter vom Opa missbraucht – und alle schwiegen

Christel fiel aus allen Wolken, als ihr die Tochter gestand, dass sie sexuell missbraucht worden war. Der Täter: Ein Familienmitglied!

Sie dachte, ihre Familie könnte gar nicht glücklicher sein. Seit langem verheiratet, einen erwachsenen Sohn, eine 18-jährige Tochter – Christel (67) war mit ihrem Leben zufrieden. Doch ihre heile Welt brach von einer Sekunde auf die andere zusammen, als ihre Tochter sich ihr öffnete. «Ich bin von Opa missbraucht worden!» Es war ein kalter Oktoberabend 2005, als Tanja ihr im Wohnzimmer gegenübersass und diesen unfassbaren Satz aussprach. Ein Satz wie ein Paukenschlag, der Christel aus Düsseldorf (D) atemlos und verzweifelt machte. «Ich brauchte Minuten, um das wirklich zu realisieren. Mein Herz raste, mir wurde schwindlig. In meinem Kopf ­hämmerte es: Das kann doch nicht sein, nicht bei uns!»

Tanja und ihr neun Jahre älterer Bruder waren doch behütet aufgewachsen. Christel arbeitete immer im Nachtdienst, um tagsüber bei den Kindern sein zu können. Abends, wenn sie zur Arbeit ging, war ihr Mann, der in einem Vertrieb für Elektrogeräte arbeitete, zu Hause. «Ich hatte 1000 Fragen», erinnert sie sich. «Wann ist das passiert? Wieso habe ich nichts gemerkt?» Tanja erzählte ihr alles. Ihr Freund hatte sie ermutigt, sich endlich den Eltern zu offenbaren. Der Opa hatte das Kind immer wieder brutal vergewaltigt und gequält, dabei so unter Druck gesetzt, dass sich die Kleine nie getraut hatte, etwas zu sagen. Als sie vier Jahre alt war, ging es los. Es endete erst, als der Opa starb. Da war Tanja zwölf Jahre alt. Weitere sechs Jahre vertraute sie sich keinem an. Erst mit 18 bröckelte der Panzer, den sich das Mädchen zugelegt hatte, um überleben zu können.

Schrecklich: Wenn Christel zum Nachtdienst ging, hat ihr Mann die Kleine zu seinen Eltern gebracht, die mit im Haus lebten. Meist, weil er ausgehen wollte. Tanjas grossen Bruder liess er in dessen Zimmer. Als Christel das von ihrer Tochter erfuhr, hakte sie bei ihrem Mann nach – ob er wusste, was sich in der Wohnung der Grosseltern abspielte. Angeblich nicht. Doch sie glaubt: «Er hat das Grauen hingenommen, aus Schwäche und Bequemlichkeit, vermutlich auch, um seine Mutter zu schützen, die ihren Mann unstrittig gedeckt hat.»

An diesem Abend starb auch Christels Ehe. Sie wollte sofort die Trennung, setzte ihren Mann vor die Tür − und war allein mit ihren Gedanken. «Ich habe monatelang gegrübelt, bin gefühlt jede Sekunde der letzten Jahre durchgegangen», erzählt die Mutter. «Was hätte ich besser machen können? Wie hätte ich das verhindern können? Aber ich fand keinen Hebel, an dem ich ansetzen konnte.»

Christel quälte sich – weil sie nichts mitbekommen hatte, weil der Täter nicht mehr bestraft werden konnte. Sie stürzte sich in die Arbeit. Auch Tanja versuchte, alles hinter sich zu lassen, studierte Sozialpädagogik, arbeitete als Betreuerin. Doch nichts war in Ordnung. Christel musste mit ansehen, wie die Vergangenheit ihre Tochter zunehmend aus der Bahn warf. «Sie wurde irgendwie unberechenbar, war mal lieb, mal aggressiv, häufig sehr ängstlich.» Sie konnte Tanjas Verhalten nicht einordnen, die Beziehung verschlechterte sich.

2015 kam dann der Wendepunkt. Als Tanja am Arbeitsplatz körperlich angegriffen wurde, wurden verschüttete Erinnerungen wieder aufgewühlt. Sie brach zusammen, begann eine Langzeit-Therapie. Es war auch der Zeitpunkt des Verstehens für Christel. Sie wusste nun, dass ihre Tochter lebenslang gezeichnet sein würde. Sie informierte sich, las im Internet, sprach mit Fachleuten. Sie wollte Tanja helfen. Heute ist das Miteinander intensiver denn je. Tanja (heute 32) lebt mit ihrem Partner zusammen, aber Mutter und Tochter telefonieren mehrmals täglich, treffen sich regelmässig jedes Wochenende. Dann bummeln sie durch Düsseldorf, trinken miteinander Kaffee und versuchen, normal zu leben. Aber Tanja ist traumatisiert. Tauchen Bilder der Vergangenheit vor ihren Augen auf, lebt sie für Minuten in ihrer eigenen Welt. Sie spricht dann wie ein kleines Mädchen, das Angst hat vor dem bösen Opa.

«Es tut weh, das mitzuerleben», sagt Christel traurig. «Ich konnte ihr damals nicht beistehen. Dafür bin ich jetzt an ihrer Seite und nutze jede Chance, um ihr zu helfen.»