«Seine Ängste trieben ihn in den Tod»

Von einem Tag auf den anderen verschwand Brigitte ­W.s Freund ­spurlos. Doch sie ­hoffte stets, er tauche irgendwann wieder auf. Vergebens!

Brigitte W. steht am Flughafen Zürich und schaut den Flugzeugen nach, die im Blau des Himmels verschwinden. Sie trauert um ihren Lebenspartner Daniel A.. Am 30. Mai 2020 verschwand er spurlos aus ihrem Leben und dem ­seiner Familie und Freunde. Er wurde von der Polizei international gesucht, auch von seinen Angehörigen und Freunden. Neun Monate lang warteten Brigitte und seine erwachsene Tochter auf ein Lebenszeichen. Niemand wusste, ob er freiwillig verschwunden war, ihm etwas zugestossen sein könnte – oder ob er überhaupt noch lebte. Eine quälende Ungewissheit, Tag für Tag.

Bis zu jenem Mai waren sie elf Jahre lang ein glückliches Paar. Brigitte W. (59) versucht wie üblich, ihren Freund Daniel A. damals 57 Jahre alt, te­lefonisch zu erreichen. Niemand antwortet. Auch seine Tochter nicht. «Ich war beunruhigt. Normalerweise ruft er umgehend zurück.» Die beiden Frauen fahren am Tag darauf zu seiner Wohnung in Kloten. «Niemand öffnete. Das verstärkte unser Gefühl, dass etwas nicht stimmte.» Am gleichen Tag melden sie ­Daniel A.bei der Flug­hafenpolizei als vermisst.

Brigitte W. macht sich grosse Sorgen. Sie ist sensibilisiert, hat sie doch vor 14 Jahren einen herben Schicksalsschlag erlitten. Ihr Mann verstarb nach einer schweren Krankheit. Zwei Jahre nach seinem Tod lernte sie Da­niel A. kennen. «Wir waren beide beruflich sehr engagiert und freuten uns darum umso mehr, wenn wir uns sahen.» Er arbeitete als Flugbegleiter bei der Swiss und sie als Reisefachfrau in einem grossen Reisebüro.

Am 22. Februar 2021 findet die Ungewissheit ein abruptes Ende. Brigitte W. erhält die schreckliche Nachricht: Daniel ist tot. Mit einer Überdosis Tabletten beging er Suizid. Seine Leiche wurde in einem Wald in der Nähe seiner Wohnung gefunden. Unerklärlich, dass er erst nach neun Mo­naten entdeckt wurde.

Die winzige Hoffnung, ihr Partner könnte wieder auftauchen, wird jäh zerstört. Immer wieder fragt sie sich, was ihn bewogen hat, aus dem Leben zu scheiden. Brigitte W.r: «Leider hat er keine Abschiedsbotschaft hinterlassen. Ich gehe davon aus, dass er grosse psychische Probleme ­hatte. Er machte sich Sorgen um seine berufliche Zukunft und hatte Angst, seine Stelle als Flugbegleiter bei der wegen Corona durch­geschüttelten Fluggesellschaft Swiss zu verlieren. Diese Ängste beeinflussten unsere Gespräche.»

Das Paar konnte stets offen über alle Probleme reden. «Er hat seine Ängste zwar an­gesprochen, aber dass sie so übermächtig wurden, konnte ich nicht wissen. Er ging nie näher darauf ein.» Auch ihr Nachhaken nützte nichts. «Niemand in seinem Umfeld ahnte, dass er innerlich so verzweifelt war. Nach aussen war er ein fröhlicher und optimistischer Mensch.»

Im Nachhinein hätten sie die bittere Erfahrung machen müssen, dass Daniel A. nicht nur ein munterer und unterneh­mungs­lustiger Mann war, sondern auch verletzlich und von Ängsten geplagt. Das habe alle, die ihn gut zu kennen glaubten, überrascht. «Ich frage mich, ob ich ihn wirklich gekannt habe», sagt Brigitte W. nachdenklich. «Hätte ich von dieser anderen Seite gewusst, wäre ich vielleicht im Stande gewesen, ihm zu helfen.» Ihrer Meinung nach haben wohl alle Menschen zwei Seelen in ihrer Brust.

«Ich vermisse Daniel sehr», fährt sie mit belegter Stimme fort, «aber das Leben geht weiter. Ich bin eine Anhängerin fernöstlicher Philosophie. Das gibt mir Halt. Zudem habe ich viele gute Freunde, die mir beistehen.» Es gibt Menschen, die sich nach einem schweren Schicksalsschlag im ­Leben nicht mehr zurecht­finden. «Ich aber bin eine Kämpferin», betont Brigitte W.. «Es gibt zwei Möglichkeiten: ­Entweder ich springe von einer Brücke, oder ich mache weiter. Ich habe mich für Letzteres entschieden.»

Ihre seelische Verfassung umschreibt Brigitte W. poetisch: «Mir geht es wie dem Sommerwetter dieses Jahr in der Schweiz – viele regnerische, aber auch einige sonnige Tage. Ich hoffe, dass diese irgendwann wieder überwiegen und ich hellere Zeiten erlebe.»