Abschied
«Sei stark, meine Doris, ich bin bei dir»
Die Bernerin Doris Hofer, in der Türkei ein gefeierter Fitness-Star, hat vor zwei Wochen ihren Vater auf tragische Art und Weise verloren. Mit einer rührenden letzten Liebeserklärung nimmt sie Abschied von ihrem Papa.
«Ich war mit meinem Freund Kerem für die Biennale und die Hochzeit unserer Freunde nach Venedig geflogen. Wir hatten ausgeschlafen, und Kerem hatte soeben ein Foto von mir gemacht, wie ich überglücklich im Hotelbett frühstückte und im Spass zwei Brötchen wie eine Sonnenbrille vor meine Augen hielt. Mein Telefon piepste. Eine Nachricht von meiner Schwester Nathalie in unserer Whatsapp-Gruppe. Sie bat mich und meine andere Schwester Caroline, uns bei unserer Mutter zu melden, es wäre wichtig. Ich rief sofort auf die Nummer von Nathalie an, und meine Mutter nahm ab, ihre Stimme war leise. Sie fragte mich, wie es mir gehe. Ich spürte sofort, dass etwas nicht stimmte, und drängte: ‹Mami, was ist los?!› Sie erzählte mir, dass Nathalie und mein Vater in der Aare schwimmen gegangen seien, mein Vater in Schwierigkeiten geraten und nicht mehr aus dem Wasser rausgekommen sei.Ich fühlte mich, als ob ein Staudamm über mir zusammenbrechen würde.
Ich war ein richtiges ‹Daddy’s Girl›. Mein Papi war mein Held; als ich klein war, wollte ich ihn heiraten, und als ich gross war, wollte ich einen Mann, der wie mein Vater war. Er war gross, fit und gut aussehend. Er wurde mehrmals von Leuten auf der Strasse für Alain Delon gehalten und um ein Autogramm gebeten. Ich war so unglaublich stolz auf ihn. Manchmal führte sein gutes Aussehen aber auch zu Unbehagen seinerseits. Als ich in Zürich studierte, gingen wir öfter in Restaurants essen. Wir ernteten immer neugierige Blicke, unsere Tischnachbarn spekulierten wohl über unsere Beziehung. Ich amüsierte mich köstlich, aber meinem Vater war das nicht recht. Es ist vorgekommen, dass er den völlig überraschten Gästen nebenan einen guten Appetit gewünscht und noch schnell ein ‹Das ist übrigens meine Tochter› hinterhergeschoben hat.
Wir hatten als Familie viel Spass
Mein Vater war von der alten Schule, ein ehrlicher Mann, der sein Wort hielt und auf den Verlass war. Er war intelligent und arbeitete hart, doch hätte er sich nie auf Kosten von anderen einen Vorteil zu seinen Gunsten verschafft. Seine Ethik wurde ihm in seiner Karriere mehrmals zum Verhängnis, aber ich bewunderte ihn deshalb umso mehr. Oftmals kam mein Vater erst nach dem Abendessen nach Hause, schlug jedoch unsere Bettelei für eine Gutenacht-Geschichte selten in den Wind. Der Arme durfte auch nicht aus einem Buch vorlesen, wir wollten immer, dass er die Geschichten selber erfand und eine Hexe und eine Prinzessin mit einbaute. Als wir in die Pubertät kamen, fanden wir das Wandern in den Bergen und die Predigt am Sonntagmorgen natürlich super ätzend, aber wir hatten als Familie immer viel Spass. Obwohl meine Mutter eigentlich die viel offenere war, hatte ich mit meinem Vater eine ungezwungene Beziehung. Ich konnte ihm die Zeitung aus der Hand reissen, mich auf seinen Schoss setzen und ihm meine Sorgen erzählen.
Als ich der Familie meine Auswanderung in die Türkei ankündigte, freuten sich meine Schwestern und Eltern zwar für mein Liebesglück, doch richtig begeistert war niemand. Nach neun Jahren verlangte mein Mann die Scheidung, und ich getraute mich monatelang nicht, es meiner Familie mitzuteilen. Meinem Vater war Krebs diagnostiziert worden, und die Ärzte hatten gemeint, Stressreduzierung sei die beste Methode, um einen Ausbruch zu verhindern. Die Scheidung verlief leider nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte. Mein Ex geriet in finanzielle Schwierigkeiten und hielt keines seiner Versprechen ein. Als ich eine ernsthafte Beziehung mit Kerem einging, stellte er gar die Alimentenzahlungen ein und zerrte mich dauernd vor Gericht. Meinen Eltern schuldete er eine Menge Geld, und uns wurde schnell klar, dass er den Kredit nie zurückerstatten würde. Ich machte mir Sorgen um die Gesundheit meines Vaters. Er regte sich ungemein auf, dass seine Tochter mit einem solchen Versager verheiratet gewesen war.
Das allerletzte Gespräch mit ihm
Am Anfang riet er mir, einen ‹richtigen› Job zu suchen, am liebsten beim Schweizer Konsulat. Doch als mein Buch in der Schweiz ein Bestseller wurde, begann er, Artikel über Blogger und Youtuber zu lesen, und ermunterte mich, meine Arbeit in den sozialen Medien weiterzuverfolgen. Wir telefonierten oft, und ich versicherte ihm, dass ich glücklich sei. Ich hatte wegen meines Exmannes finanziell zwar alles verloren, aber gleichzeitig hatte ich mit der Scheidung mein Leben und meine Träume zurückgewonnen. ‹So lange Zoe und Noah bei mir sind und wir alle gesund sind, bin ich glücklich›, beteuerte ich immer wieder, so auch bei unserem letzten Telefongespräch. ‹Mach dir ke Sorge Papi, es chunnt aues guet. I ha di fescht gärn› waren meine letzten Worte, und ich bin so dankbar dafür, dass ich meinem Vater meine Gefühle immer gezeigt habe. Wir haben zusammen geweint und uns zusammen gefreut. Wir standen uns sehr nahe, und ich sagte ihm immer, wie wichtig er für mich sei.
Sein Tod hat mir wahnsinnig wehgetan, vor allem weil ich jetzt nie mehr in seinen Armen versinken kann und diese Sicherheit und Geborgenheit werde spüren können. Wie heisst es doch: Mädchen werden erwachsen, wenn ihr Vater stirbt.
Ich habe bei meiner Scheidung die Erfahrung gemacht, dass Weinen ein wichtiger Schritt bei der Trauerbewältigung ist. Beim Verlust meines Vaters flossen meine Tränen mehrere Tage lang fast ununterbrochen, bis sie versiegt waren. Nach dieser Phase begann ich, Dankbarkeit zu fühlen. Mein Vater hatte meine positive Art immer bewundert, und so schwer es auch fällt, im Verlust einer geliebten Person etwas Gutes zu finden, hat es mir geholfen, mich auf das zu konzentrieren, was wir beide geteilt hatten, statt um das zu trauern, was wir jetzt nicht mehr haben. Mein Vater war während meiner ganzen Kindheit für mich da gewesen, er hatte mir Werte wie Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und Stärke vermittelt. Er hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Ein gutes Mami, das sich an kleinen Dingen wahnsinnig freuen kann und davon träumt, die Welt zu entdecken und zu verbessern.
Er wurde von der Natur abgeholt
Mein Vater und ich haben so viele schöne gemeinsame Erinnerungen, die ewig in meinem Herzen weiterleben und ein Lächeln auf meine Lippen zaubern. Für all das bin ich unendlich dankbar. Mein Vater hatte ein erfülltes Leben mit einer Frau und drei Töchtern, die ihn abgöttisch liebten. Vielleicht hätte er noch viele Jahre leben können, doch es hat keinen Wert, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich vertraue darauf, dass eine höhere Macht entschieden hat, dass an diesem Samstagnachmittag der richtige Moment für ihn gekommen war. Mein Vater wurde von der Natur, mit der er so verbunden war, abgeholt, und ich weiss, dass er an einem lichterfüllten Ort ist und immer für mich da sein wird. Ich muss mich nur daran gewöhnen, dass es eine andere Form des Daseins ist – und schon höre ich seine Stimme: ‹Sei stark, Doris, ich bin bei dir.›»