Plötzlich tauchten sieben Geschwister auf

Regula Brühwiler aus dem Aargau wurde zur Adoption freigegeben. Als sie nach vielen Jahren ihre Mutter gefunden hatte, erfuhr sie, dass sie noch mehrere Brüder und Schwestern hat.

Helles Lachen klingt durch das Wohnzimmer im aargauischen Gränichen. Regula Brühwiler-Giacometti und ihre Schwester Regina unterhalten sich angeregt. Zwei Frauen – ein Herz und eine Seele, als ob sie sich schon lange kennen. Weit gefehlt. Die beiden begegneten sich im November 2017 zum ersten Mal. «Die Geschichte, wie ich unerwartet zu Geschwistern kam, ist unglaublich», erzählt die 60-jährige Regula.

Sie kam am 6. Oktober 1958 in St.Gallen zur Welt. Ihre Mutter Bettina war verheiratet. Aus der Ehe stammen drei Kinder: Bettina 1953, Hans 1955 und Peter 1956. Doch die Ehe ging in die Brüche, als ihre Mutter Peter unter dem Herzen trug. Später wurde sie von einem verheirateten Mann schwanger. «Ich bin das Kind aus dieser Verbindung», erzählt Regula Brühwiler. «Ein Seitensprungkind – das von seiner Mutter zur Adoption freigegeben wurde.»

Im Alter von sechs Wochen fand Regula in Lugano bei der Familie Giacometti ein Zuhause. Sie wurde vor allem von ihrem Pflegevater Luciano liebevoll umsorgt. Er war ein Cousin des berühmten Künstlers Alberto Giacometti. «In der Jugend hatte mein Papi engen Kontakt zu Alberto, und auch ich lernte ihn kennen.»

Als Regula 18 Jahre alt war, starb ihr geliebter Papi. «Ich war am Boden zerstört. Nur von ihm hatte ich spürbare Liebe und Zuneigung bekommen, von meinem Mami wenig und von meinem Stiefbruder gar keine.»

Ausgelöst durch die tiefe Trauer machten sich vermehrt undefinierbare Ängste bemerkbar. Doch das Schicksal meinte es gut mit ihr: Mit 20 Jahren lernte Regula die Liebe ihres Lebens kennen: Thomas. «Er gab mir, was ich in meiner Jugend oft vermisst hatte: Liebe und Geborgenheit.» Sie folgte ihm in die Deutschschweiz. 1986 kam ihr Sohn André zur Welt. Seine Geburt weckte in ihr den Wunsch, nach ihren eigenen Wurzeln zu suchen.

Sie nahm über die Vermittlungsstelle für Adoptionen Kontakt zu ihrer Mutter auf. «Aus den Akten wusste ich, dass ich drei Geschwister habe, aber ich habe nur meine leibliche Mutter gesucht.»

Vor 30 Jahren sahen sich Mutter und Tochter zum ersten Mal. «Ich hatte viele Fragen, wollte wissen, warum sie mich zur Adoption freigegeben hat.» Die Mutter erklärte, sie sei gezwungen gewesen, alle vier wegzugeben, da das Geld nicht gereicht habe, um die Kinder durchzubringen. «Na ja, ich bin ein Seitensprungkind», dachte die Tochter damals, «kann passieren, wenn man nicht aufpasst.» Was ihr die Mutter jedoch verschwieg, war, dass sie später noch vier Kinder gebar.

Wie viele Adoptivkinder litt auch Regula Brühwiler jahrelang unter Traumata und Angstattacken. Um ihre Vergangenheit zu verarbeiten, beschloss sie, ihr
Leben niederzuschreiben. 2017 erschien ihr Buch «Seitensprungkind». Kurz vor der Buchvernissage erfuhr sie durch die Organisation PACH (Pflege- und Adoptivkinder Schweiz), dass es vier weitere Geschwister gibt: Gabriela, 1960 geboren, Angelina 1963, Regina 1964 und Mathias 1967. «Ich fiel aus allen Wolken!» PACH stellte den Kontakt zu den Geschwistern her. Bei jedem hatte die Vergangenheit als Adoptiv-, Pflege- oder Heimkind Spuren hinterlassen. «Doch sie haben ihre Traumata überwunden. Auch ich – dank der liebevollen Unterstützung meines Mannes.» All das bewog sie, ein zweites Buch mit dem Titel «Plötzlich Familie» zu verfassen. Darin schildern auch die Geschwister ihr Schicksal.

Als erste traf Regula Brühwiler 2017 Regina, später Bettina, Gabriela und Angelina. 2018 folgten Mathias, Peter und Hans. «Diese Treffen waren sehr emotional, und wir spürten eine tiefe Verbundenheit. Wir alle sind geprägt von einer nicht einfachen Kindheit.»

Die acht Menschen, die sich nach Jahrzehnten endlich gefunden haben, geniessen jede Minute, die sie beieinander sind, und unternehmen auch viel zusammen. «Meine Geschwister sind eine Bereicherung», lächelt Regula Brühwiler, «ein Geschenk des Himmels. Sie sind ein Teil von mir, und ich möchte sie nie mehr missen. Es ist wunderbar, eine so grosse Familie um sich zu haben.»

Buchtipp

Regula Brühwiler-Giacometti:

«Plötzlich Familie – Meine Adoptionsgeschichte brachte mir sieben neue Geschwister», Cameo-Verlag, Bern, Fr. 28.90.