Plötzlich kamen die schreck­lichen Erinnerungen zurück

Angelika war als Kind vom Vater lange missbraucht worden − und verdrängte das erfolgreich während Jahren. Doch dann begann sie, unter Panikattacken zu leiden.

Es kann überall passieren. Auf der Strasse, in einem Geschäft, beim Spazieren­gehen mit Hund Luna. Plötzlich ist da eine tiefe Männerstimme, der Geruch eines Parfums, ein unerwarteter Körperkontakt. Und schon sind sie da: schreckliche Bilder aus der Vergangenheit, die sich in Angelikas Kopf drehen.

Die gelernte Facharbeiterin aus Deutschland bekommt bei diesen Erinnerungen Herzrasen, Schwindel und eine quälende Atemnot. «Ich denke, ich muss sterben. Es ist furchtbar!» Ange­lika leidet an einer hochgradigen posttraumatischen Belastungsstörung. Der Auslöser liegt in ihrer Kindheit, denn Angelika wurde fünf Jahre lang von ihrem Vater, einem angesehenen Kaufmann, missbraucht.

«Meine Mutter hat damals im Schichtdienst gearbeitet», erinnert sich Angelika. «Und wenn sie nicht zu Hause war, hat mich mein Vater ins Ehebett geholt, regelmässig und mehrmals die Woche.» Es passiert zu allen möglichen Tageszeiten, und Angelika lässt jedes Mal, starr vor Schreck und Ekel, teilnahmslos alles über sich ergehen. Sie wehrt sich nicht – und sie erzählt auch nichts. Sie hält es einfach aus.

«Ich habe gedanklich meinen Körper verlassen», erklärt sie. «Das war, als ob ich mit dem Geschehen im Ehebett nichts zu tun hätte.» Sie sass in einer Ecke und habe an schöne Dinge gedacht – «an die Schule, meine Freundinnen, einen Film». Erst nach drei Jahren, als die Mutter einmal früher von der Arbeit nach Hause kommt und beide überrascht, packt Angelika aus.

Damals ist sie 15 Jahre alt, ein stilles, tief verletztes Mädchen, und niemand spricht mir ihr über das Geschehene. Angelika macht das Naheliegende, verdrängt es und versucht, Normalität zu leben. «Ich habe die Bilder, die Schmerzen, den Ekel, das alles zusammen in eine innere Kiste gepackt, sie fest verschlossen und die heile Welt mitgelebt. Es ging mir zumindest äusserlich gut.»

Sie verliebt sich, heiratet früh ihren Daniel (52), einen Kraft­fahrer, zieht mit ihrem Mann weit weg und entkommt so der Fa­milie. Doch dann stirbt unerwartet der Vater, Angelika ist 22 Jahre alt. Sein Tod löst in ihr ein absolu­tes Gefühlschaos aus. «Ich wusste nicht, ob ich Freude oder Trauer empfinden sollte, und hatte keinerlei Kontrolle mehr über meine Gefühle», erklärt sie. «Ich wusste aber auch nicht, womit das zu tun hat.»

Sie beginnt mit Therapien, die sie vorübergehend stabilisieren. Zusätzlich versucht sie, sich die Not mit einem vollgepackten Alltag wegzuarbeiten. Angelika bekommt zwei Kinder, arbeitet als Industriekauffrau.

Doch dann, mit Ende 30, verändert sie sich. Sie weint plötzlich, ohne zu wissen, warum. Mal fühlt sie sich zu schwach, um allein zu essen. Mal kann sie nicht gehen. Die Ärzte sind ratlos. Immer wieder wird sie krankgeschrieben, bis sie mit Suizidgedanken in eine Klinik kommt. In einer Therapie wird darauf ihre Vergangenheit aufgearbeitet. «Das Wasser im Topf hatte 30 Jahre immer stärker gebrodelt, und schliesslich war der Deckel aufgesprungen», erklärt ihr damals sehr anschaulich der Therapeut.

Und die Erinnerungen sind plötzlich wieder lebendig. Sie spürt, wie damals, die fordernden Hände ihres Vaters, sieht seine gierigen Augen, hört sein hemmungsloses Stöhnen. «Ich bin mehrmals am Tag in dieser Welt. Dann fühle ich mich wie weggeschaltet, abwesend, gefangen. Es ist furchtbar», so Angelika. Und immer wieder drängt sich eine Frage auf. Warum hat ihr die Mutter nicht geholfen? «Sie hat es gewusst, aber sie wollte ihre schöne heile Welt nicht gefährden und hat meinen Vater gewähren lassen. Bis heute weicht sie mir aus, wenn ich das dunkle Kapitel unserer Familie anspreche. Sie hat nie wieder eine Frage zugelassen.»

Doch Angelika gibt nicht auf. Sie macht jetzt eine Traumathe­rapie und glaubt fest daran, dass danach wieder etwas Normalität in ihr Dasein kommt. «Ich kämpfe mich zurück ins Leben, ganz sicher», ist sie überzeugt, und ihre Stimme klingt zuversichtlich. «Ich schweige auch nicht länger und habe keine Lust mehr auf die heile Fassade. Jeder kann wissen, was ich erfahren musste und dass die ­Folgen lebenslang sind. Vielleicht sehen dann mehr Menschen hin, wenn so etwas mit Kindern ­passiert.»