«Nur das Grosi hat mich und meine Geschwister geliebt»

Die Zürcherin Anja Schär hatte Zärtlich­keiten nie erlebt, dafür Aus­beutung und Gewalt. Halt gab es nur von ihrer Oma.

Sie wurde gezeugt, um auf dem Hof ihrer Eltern als Arbeitstier zu schuften – gemeinsam mit sechs Geschwistern. Liebe und Zärtlichkeiten gab es nicht, dafür Schläge, Kopfnüsse, Erniedrigungen. Ihre Leidens­geschichte hat Anja Schär auf­geschrieben und veröffentlicht. Es ist, als ob das Thema Verdingkinder in anderer Form wieder auferstanden wäre.

Anna nennt sich jetzt Anja, um mit ihrer traurigen Vergangenheit abschliessen zu können. «An einem wunderschönen, sonnigen Tag beschloss ich, Anna zu be­graben. Ich war 37 Jahre alt und hatte einfach keine Kraft mehr für Anna.» Ein weiterer Schicksalsschlag war dazugekommen. «Soeben hatte mein Mann mich und meine zwei Kinder verlassen.»

So beschreibt Anja Schär in ihrem ergreifenden Buch «Anna will leben − allen Widerständen zum Trotz» den Moment, in dem sie die Vergangenheit hinter sich liess. Die Geschichte von Anna – Anja Schär ist heute 66 – gehört zu einem traurigen Kapitel aus einer Zeit, die noch nicht so lange her ist. Nein, Anna wurde nicht fremdplatziert wie einst die Verdingkinder. Sie und ihre Geschwister wurden von den Eltern auf deren Bauernhof in der Umgebung von Zürich zur pausenlosen Arbeit gezwungen und ausgenutzt. Es war ein Leben ohne jede Zuwendung, Zärtlichkeit oder gar Liebe. Der Grossmutter wurde sogar verboten, eines ihrer Enkel­kinder auf den Schoss zu nehmen. «Manchmal streichelte sie uns heimlich über den Kopf», erinnert sich Anja. Ihr Bruder Albertli, der Einzige, den Anja in ihrem Buch mit richtigem Namen nennt, starb mit 14. Er war geistig und körperlich schwer behindert. «Was ist es für ein Glück, dass du gelähmt bist», hörte Anna ihr Grosi sagen. «So lassen sie wenigstens dich in Ruhe.» Anja Schär dazu: «Nur das Grosi hat uns geliebt.»

«Die Vorfahren väterlicherseits stammen aus dem Emmental», erzählt Anja Schär der GlücksPost, als wir mit ihr den Ort ihrer Kindheit aufsuchen. «Ich war das dritte Kind, das mittlere der drei Mädchen. Wir mussten nicht nur schuften, es gab auch Schläge, meistens ohne Grund. Wir durften nicht mit anderen Kindern spielen, die Grenzen waren vom Vater strikt diktiert.» Als der Älteste, Ruedi, 19 Jahre alt war, schlug der Vater ihn zum letzten Mal. Eines Abends packte Ruedi den Vater, der ihm in loser Reihen­folge Schimpfwörter wie Löu, cheibe Lümmel, Gschtabi, Schnuderi oder verdammte Chrüpelsiech nachrief, und erklärte ihm un­widerruflich, dass er ab heute zurückschlagen werde.

Die Mutter machte mit, beschützte ihre Kinder nicht, war oft genauso böse wie der Vater. Beim dritten Kind sei das Thema Scheidung in der Luft gewesen. Doch der rücksichtslose Vater zeugte weitere Kinder, jedes Jahr ein neues, um die Mutter an den Hof und an die Familie zu binden, wie Anja Schär heute vermutet.

Sie schrieb die Geschichte von Anna in der dritten Person. «Nur das ermöglichte es mir, die schrecklichen Albträume und die Einsamkeit meiner Jugend niederzuschreiben. In der Ich-Form wäre der Schmerz zu gross ge­wesen.»

Anjas Eltern leben beide nicht mehr. Ihren Vater sah sie vor ­seinem Tod ein-, zweimal. «Leider hat er sich nie für etwas entschuldigt. Ich suchte später auch das Gespräch mit der Mutter im Altersheim, weil ich eine Er­klärung oder Entschuldigung erwar­tete. Aber beide Eltern waren sofort eingeschnappt, wenn man etwas ansprach. Ich hätte jede ihrer Antworten akzeptiert.» Die Mutter habe bis zuletzt geglaubt, sie sei die Arme gewesen und nicht die Kinder. Beide waren der Meinung, dass sie es mit der Erziehung gut gemacht hätten. Es seien schliesslich alle etwas gewor­den.

Buchtipp

Anja Schär: «Anna will ­leben − allen Widerständen zum Trotz», ­Verlag Einfach ­Lesen, 33 Franken.