Mit ihrem Enkel entdeckt sie die Welt

Sie hat keinerlei Lust aufs Heim − sondern aufs Reisen. Seit sechs Jahren ist Grossmutter Joy nun mit ihrem Grosskind unterwegs in den USA. Und blüht auf!

Bald nach Joy Ryans 85. Geburtstag überraschten ihre Kinder sie mit einem eigenwilligen Plan: «Es gibt da nicht weit von uns entfernt ein schönes Altersheim. Wäre das nichts für dich? Dann bräuchtest du dich nicht mehr um den täglichen Kleinkram zu kümmern.» Joy sah ihren Nachwuchs verdutzt an, fasste sich aber schnell und erwiderte: «Danke. Kein Interesse. Ich habe eine andere Idee.»

Zwei Monate vorher, auf der Hochzeit einer Enkelin, war etwas geschehen. Joy traf einen Enkel wieder, den sie im Laufe der Jahre aus den Augen verloren hatte. Brad Ryan (34), Wildtierarzt. Nach der Scheidung seiner Eltern war die Familie vor Jahren auseinandergebrochen. «Wir verstanden uns auf Anhieb», erzählt Joy. Brad kommt als Veterinär der Nationalparks viel herum. Er schwärmte von Bergen, Seen und Wüsten. Seine Oma hing an seinen Lippen. Die frühere Gärtnerin hatte acht Jahrzehnte in Duncan Falls (Ohio. USA) verbracht, ohne den Ort je zu verlassen und meinte traurig: «Ich habe noch nie Berge gesehen. Wie sind die so?»

«Als ich daheim war, dachte ich an die Worte meiner Grossmutter», erzählt Brad. «Ich rief sie an: ‹Ich habe morgen im Great Smokey Mountain Nationalpark zu tun. Kommst du mit?›» Joys Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: «Holst du mich ab?»

Für die beiden war dies der Beginn einer grossen gemeinsamen Fahrt durch Amerika, die mittlerweile seit sechs Jahren andauert. Als Joy bei ihrem ersten Ausflug mittags über die Berge blickte, rief sie: «Wie schön die Welt ist! Das habe ich nicht gewusst.» Sie blieben vier Tage in der Wildnis. Joy half, Spuren kranker Tiere zu finden, denen Brad helfen wollte. «Während der ersten Nächte rollte Oma mehrmals von der Matratze», lacht Brad. «Andere Leute hätten das Abenteuer nun abgeblasen. Nicht so Oma.»

Inzwischen haben die beiden 65 000 Kilometer zurückgelegt, dabei 61 der 63 Nationalparks der USA besucht. In der Maho Bay von St. John schwammen sie mit Meeresschildkröten. In South Dakota staunten sich über das «Mount Rushmore Memorial» mit den Köpfen von vier Präsidenten. In Alaska fuhren sie Hundeschlitten.

Wegen der Unterbrechung durch die Pandemie dauerte die Expedition länger als geplant. Aber der Trip beweist der 91-Jährigen, dass sie Leistungen vollbringen kann, körperlich und geistig, die sie sich nie zugetraut hätte. Dazu hat die Reise zu einer wundervollen Beziehung mit ihrem Enkel geführt. Dieser sagt: «Im Auto haben wir viel über unsere geredet. Oma und ich begannen unsere Reise als Fremde, und nun sind wir Familie.

Voll Bewunderung für seine Grossmutter erzählt Brad im Internet über das Abenteuer. Er hofft, dass seine Berichte andere ältere Leute ermuntern, ebenfalls Neues zu versuchen. «Oma hatte den Mut, ihre Couch zu verlassen und in die Natur zu gehen − trotz Knie-Erneuerung. Was für ein gutes Beispiel. Übrigens auch für mich: Ich habe nun weniger Angst vor dem Älterwerden.»

Weil Brads Internet-Beiträge gut Werbung für die National-Parks sind, erlauben ihm seine Chefs freie Tage für die Trips. Auf der Spendenseite www.gofundme.com im Internet sammelt Brad unter dem Titel «Grandma Joy’s Road Trip» Spenden, um die gemeinsamen Ausflüge zu finanzieren.

«Unsere Reise hat die Jahre, die mir noch bleiben, völlig verändert, freut sich Joy. «Für mich gibt es kein ‹Kann ich nicht› mehr. Es zu versuchen, tut nicht weh.»