«Meine Mutter trieb mich fast in den Selbstmord»

Als Kind wurde Sabine jahrelang misshandelt und vernachlässigt. Sie war mit ihren Kräften am Ende. Nun erzählt sie, wie sie dieser Hölle entkam.

Schläge, Tritte, Gefühlskälte – wie viele Seelenqualen kann ein Mensch ertragen? Sabine (55) aus München (D) zuckt nur still mit den Schultern. Lange, viel zu lange, hat sie die Demütigungen über sich ergehen lassen. Jetzt hat sie einen Schluss-Strich gezogen: «Meine Mutter ist für mich gestorben.» Denn nur so könne sie selbst weiterleben.

Das klingt hart. Aber wer Sabines Geschichte hört, kann den Satz verstehen. Und man möchte sie in den Arm nehmen, wenn sie von ihrer Kindheit erzählt. Ihre Mutter Lydia K. war 18, als sie schwanger wurde. Sie wollte das Baby nicht. Und das liess sie ihre Tochter spüren. Das Mädchen wuchs bei seiner Oma auf. «Meine Mutter kam unregelmässig zu Besuch. Aber sie hat nur die Grossmutter begrüsst, mich nicht.»

Erst mit zwölf Jahren kam Sabine wieder zur Mutter. Nicht, weil die es so wollte, sondern weil sich die Oma überfordert fühlte. Sabine fürchtete sich. Ihre Mutter hatte inzwischen geheiratet. Und der Stiefvater war noch liebloser.

«Er schlug mich für Nichtigkeiten windelweich», erzählt Sabine. Für einen falsch eingeräumten Teller gab es Faustschläge, für eine Verspätung auch Tritte. «Ich habe oft auf dem Boden gelegen und ihn angefleht aufzuhören.» Lydia K. hielt das Mädchen bei den Torturen manchmal sogar fest, feuerte ihren Mann an. Sie wollte, dass er Sabine bestraft. Als eine Lehrerin beim Sport die vielen Blutergüsse sah, informierte sie das Jugendamt. Sabine kam in ein Heim. Oma Inge hätte ihre Enkelin gerne wieder bei sich aufgenommen, doch die Mutter des Mädchens beharrte auf dem Heimaufenthalt. Eiskalt, herzlos!

Die physischen Narben heilten langsam. Aber Sabines Seele weinte unaufhörlich. Im Heim wurde sie zwar nicht geschlagen, aber weiterhin gedemütigt. «Ich musste meinem Stiefvater Entschuldigungen schreiben und sagen, dass ich seine Behandlung verdient habe. Das war alles richtig krank.» Und wieder unternahm die Mutter nichts. Da war keine Liebe, kein Mitgefühl. Und diese Kälte trieb Sabine fast in den Selbstmord. Viermal versuchte sie, sich umzubringen. Sie schnitt sich die Pulsadern auf, schluckte Tabletten, wollte sich mit Gas ersticken. Zuletzt sprang sie aus dem Fenster und zertrümmerte sich dabei den Fussknochen. Doch Hilfe bekam sie auch jetzt nicht. Stattdessen landete sie in der Arrestzelle im Spital. «Es war unmenschlich», erzählt Sabine. «Ich war immerzu misshandelt worden, allein und nur noch krank.»

Erst mit der Volljährigkeit entkam sie der Hölle. Doch Seele und Körper waren zerstört. Sie hatte Angstattacken und kann bis heute nicht richtig gehen. Trotzdem biss sich Sabine durch, machte eine Lehre und arbeitet heute als Buchbinderin. Sie heiratete, bekam zwei Söhne. Doch die Ehe scheiterte, auch an Sabines Verlustangst. «Ich wollte um jeden Preis mein Glück festhalten und habe meine Ehe wohl mit meiner Eifersucht ruiniert», gibt sie zu.

Heute lebt Sabine allein. Arbeiten kann sie nicht mehr, muss die meiste Zeit an Krücken gehen. Sie leidet an Depressionen und Schmerzen. Ihre Mutter lebt nur wenige Kilometer von ihr entfernt. Kontakt hat sie zu ihr nicht. «Ich habe auch in den letzten Jahren immer auf eine Versöhnung gehofft, auf etwas Liebe. Ich glaube, das ist natürlich, dass man sich immer nach der Zuwendung der Mutter verzehrt. Aber sie konnte mir auch jetzt nichts geben.»

Sabine musste deshalb einen Schluss-Strich ziehen – für sich selbst und ihre Zukunft. Sie will leben! «Ich habe alles entsorgt, was mich an sie erinnert, dabei viel geweint. In meinem Innersten ist seitdem ein Schalter umgelegt. Meine Mutter gibt es nicht mehr für mich. Ich fühle mich befreit, es ist vorbei.» Jetzt will sie nach vorne sehen. «Ich möchte noch einmal Glück in meinem Leben spüren. Vielleicht an der Seite eines verständnisvollen Mannes.»