«Mein Sohn ist eine Drag Queen»

Weil er sich gerne als Frau verkleidet, wurde Jamie gemobbt. Nur seine Mutter hielt zu ihm. Sein Vater jedoch verliess die Familie.

Ihr Sohn sah unglaublich gut aus: Es war Sommer 2004 und Jamie, damals neun Jahre alt, spielte in einer Schulaufführung ein Mädchen, trug kurze Hotpants und kniehohe Lederstiefel. Sein Gesicht war geschminkt. Wie er so über die Bühne wirbelte, begeisterte er das Publikum. Seine Mutter, die Engländerin Margaret Campbell (52), erzählt: «Schon als er vier Jahre alt war, fühlte er sich von der Damenabteilung in Boutiquen magisch angezogen, besonders hatten es ihm Ponchos und lange Handschuhe angetan.» Er wollte beim Spielen nie Tarzan sein, nein, Aschenputtel und andere weibliche Märchenfiguren interessierten ihn viel mehr. «Ich war keinen Moment beunruhigt», sagt Margaret.

Im Gegenteil: Sie bestärkte ihn, half ihm beim Schminken und beim Aufsetzen von Perücken. Er war fünf, als er mit den Eltern ein Cabaret auf Ibiza besuchte. Es gab eine Show mit Drag Queens, also mit Männern, die als Frauen gekleidet waren. Jamie konnte sich nicht sattsehen, war restlos begeistert. Sein Vater jedoch regte  sich wahnsinnig auf, dass sein Sohn «solches Zeug» mochte. Es gab an jenem Abend einen Riesenstreit zwischen den Eheleuten. Der Vater sagte, er wolle einen richtigen Jungen und hasse es, wenn er sich wie ein Mädchen benehme. Der Zwist ging wochenlang weiter. Schliesslich verliess Jamies Dad seine Familie und reichte kurz darauf die Scheidung ein.

Mutter und Sohn blieben ein Team. Der Bub war elf, als er in engen Jeans, mit Glitzertops und hohen Schuhen zur Schule ging. «Er wurde so natürlich zum Gespött der Klasse und gemobbt», erinnert sich Margaret. Man rief ihm hinterher: «Hey Schlampe, was bist du für ein hässliches Weib!» Draussen liess er sich nichts anmerken, aber daheim brach er in Tränen aus. Seine Mutter sagte ihm dann, dass er etwas ganz Aussergewöhnliches sei. Nie wäre es ihr in den Sinn gekommen, ihn ändern zu wollen.

Als Jamie 13 Jahre alt war, eröffnete er ihr, dass er eine Drag Queen werden wolle. Und als er 14 war, sagte er, dass er sich zu Männern hingezogen fühle.  Dann, im Januar 2011, kam für Jamie ein grosser Wendepunkt. Es war ein paar Monate vor seinem Abschlussfest an der Schule, an dem er in Frauenkleidern erscheinen wollte. Eines Tages kam er weinend nach Hause: Er war ins Lehrerzimmer gerufen worden und wurde gefragt, ob er tatsächlich als Drag Queen an der Party teilnehmen wollte. Eltern von Schülern hatten die Schulleitung informiert, dass sie dies ekelhaft fänden. Er wurde aufgefordert,
in Herrenkleidern aufzutauchen, ansonsten würde er vom Anlass ausgeschlossen.

Aus der anfänglichen Angst wurde Wut, und Jamie schrieb diverse TV-Stationen an, wollte seine Geschichte erzählen. Das Interesse war sehr gross, und an seinem Abschlusstag im Juli 2011 wurde er vom Sender BBC begleitet. Er trug ein Seidenkleid, eine blonde Perücke und High Heels. Die Kameras filmten ihn, wie ihn seine Mutter küsste, bevor er zum Ball ging, in Begleitung seiner wenigen Freunde. Es wurde aufgezeichnet, wie er an der Türe der Festhalle abgewiesen wurde. Doch Jamie war noch nie jemand gewesen, der aufgab. Unter den vielen Schülern gab es auch solche, die sich für ihn einsetzten. Schliesslich kam es so weit, dass mehrere von ihnen Jamie unterstützten und riefen: «Wenn er nicht reindarf, wollen wir auch nicht teilnehmen!» Schliesslich wurden alle zum Fest zugelassen.

Nach der Ausstrahlung der Dokumentation bekam Jamie mehrere Angebote, als Drag Queen aufzutreten. Fortan nannte er sich Fifi La True und zog nach London. Bald darauf kam ein Anruf eines Produzenten, der sein Leben auf die Bühne bringen wollte. Das Musical «Everybody’s Talking About Jamie» ist ein grosser Erfolg und wird nun auch fürs Kino verfilmt.

Ohne Jamie wurde es für seine Mutter leer und öde in der Wohnung. «Ich vermisste ihn so sehr, war aber glücklich, dass er das tun konnte, was er liebte.» Jamie ist heute 23 Jahre alt, und Mutter und Sohn sind sich näher denn je. «Jamie hat so viele Diskriminierungen durchlitten, und es werden weitere kommen. Ich bin froh, dass er auf sich stolz ist. Als Mutter könnte ich mir nicht mehr wünschen.»