«Man hat unserem Yves das Leben genommen»

Sie erleben das Schlimmste, was Eltern zu­stossen kann: Nicole und Christian haben ihren Sohn, der erst 15 war, bei einem Arbeitsunfall verloren. Zu ihrer Trauer kommt der Schmerz über die Gleichgültigkeit der Verantwortlichen.

Yves war ein lebensfroher Junge, ein fleissiger Stift, der Freude hatte an seiner Lehre als Maurer. Doch am 5. Dezember 2019 fand sein Leben ein jähes Ende: Auf einer Baustelle in Dietikon ZH wurde der 15-Jährige von mehreren tonnenschweren Betonplatten erschlagen.

An diesem verhängnisvollen Tag war die grosse Weininger Firma R. damit beschäftigt, die senkrecht gelagerten schweren Betonplatten zu versetzen, um die Ränder der Baugrube zu sichern. Da der Baukran zu schwach war, wurde ein Schaufelbagger eingesetzt. Ein Bauarbeiter stieg mittels einer Leiter auf die Betonplatten, um die Ketten für das Anheben anzubringen. Und da geschah es: Die drei mal drei Meter grossen Platten kippten wie Domino­steine um. Die letzte fiel genau auf Yves, der am Fusse der Platten damit beschäftigt war, Magerbeton wegzuspitzen.

Warum wurde er nicht aus der Gefahrenzone herausgeholt? Wer gab ihm die Anweisung, dort zu arbeiten? Den Verantwortlichen auf der Baustelle, also dem Bauführer, dem Polier und Yves’ Lehrmeister der Dietiker Baufirma B., musste doch klar gewesen sein, dass die unsachgemäss gelagerten Betonelemente jederzeit umkippen konnten. Warum liess man den Teenager an einem so gefährlichen Ort arbeiten?

Fragen über Fragen, auf die die verzweifelten Eltern, Nicole (43) und Christian (52) Radakovits, bis heute keine Antworten erhielten. Weder von den Untersuchungs­behörden noch von den zuständigen Personen der beteiligten Baufirmen.

Seit der Tragödie sind anderthalb Jahre verstrichen, und noch immer sind die Schuldigen nicht ermittelt. Zwar lud die zuständige Staatsanwaltschaft mehrere Personen der beiden Firmen zu einer Einvernahme ein, aber entweder verweigerten sie die Aus­sage oder machten belanglose Angaben.

Nicole Radakovits sitzt am Stubentisch in Geroldswil ZH und sagt mit belegter Stimme: «Die Polizei kam nach dem Unglück zu uns nach Hause. Ich war gerade am Kochen, als es klingelte und sie mir die schreckliche Nachricht überbrachten. Das Leid über seinen Tod wird mich ein Leben lang begleiten. Auch schmerzt mich die Gleichgültigkeit der Verantwortlichen, die sich kaum bei uns gemeldet haben.» Bitter fügt Christian Radakovits hinzu: «So ein Verhalten ist menschen­verachtend. Wäre Yves der Sohn eines reichen, einflussreichen Vaters gewesen, wäre der Fall schon längst abgeschlossen.»

Martin B., Yves’ Lehrmeister, rief etwa ein Jahr nach dem Unglück an und sagte, es tue ihm leid, was geschehen sei, doch er habe nicht gewusst, wie er auf die Hinterbliebenen zukommen sollte. Er wisse aber, wie sich die Familie fühle, habe er doch selbst sieben Kinder. Umso un­verständlicher sei sein gleichgültiges Verhalten und das seiner Firma, erwiderte Christian Radakovits, der ebenfalls Baufachmann ist, aufgebracht.

In der ganzen Zeit, die seit dem Unglück verstrichen ist, hat die Staatsanwaltschaft lediglich sechs Einvernahmen geschafft. «Unser Anwalt erklärte, er könne zwar bei den Behörden Druck machen, sie aber nicht zwingen, das Ganze zu beschleunigen und endlich Anklage zu erheben», erklärt Christian Radakovits. «Es könnte noch gut und gerne zwei Jahre dauern, bis es zur Anklage kommt. Das ist kaum auszuhalten.»

Nach dem Tod von Yves musste sich Nicole Radakovits meh­rere Wochen in stationäre psychia­trische Behandlung begeben. Ihr zweiter Sohn, Len (12), wurde in dieser Zeit vom Vater und Freunden betreut. Zum Glück würden ihr die Familie, Freundinnen und Nachbarn helfen, mit diesem Schicksalsschlag umzugehen.

«Auch wenn irgendwann dieses leidige Hin und Her zwischen den Untersuchungsbehörden, den beiden Baufirmen und uns ge­regelt ist, gibt uns das Yves nicht zurück», ergänzt Christian Radakovits und fährt nachdenklich fort: «Ich habe mich immer für Schwächere eingesetzt. Seit Yves nicht mehr da ist, habe ich mich aber total zurückgezogen.»

Er habe keine Angst vor dem Tod, denn er glaube an ein Leben danach. Für jeden Menschen laufe eine Sanduhr. Für den einen laufe sie schneller ab, für den andern langsamer. «Doch die von Yves ist viel zu früh abgelaufen, weil man ihm das Leben genommen hat.» Auch Nicole Radakovits Seele leidet weiter, und darum wird sie sich wieder in eine psychiatrische Klinik begeben müssen. Leise sagt sie: «Ich glaube, mein Sohn ist an einem bes­seren Ort. Das immerhin hat etwas Tröstliches.»