Liebe kennt keine Hautfarbe

Sie ist weiss, er schwarz: Alle waren damals gegen ihre ­Beziehung. Das Paar trennte sich − und hat nach Jahrzehnten wieder ­zueinander ­gefunden.

Jetzt sind wir endlich für immer zusammen», freut sich Jeanne Gustavson (68) und blickt den Mann zärtlich an, der ihre erste grosse Liebe war. «Ja», erwidert Steve Watts (71), «aber es war ein langer, schwerer Weg.» Die Studentin und der Student hatten sich 1971 unsterblich verliebt. Jeanne war 18, Steve 21 Jahre alt. Sie lernten sich im 1871 gegründeten Deutschen Club in Chicago (USA) kennen. Sieben Jahre vorher, 1964, war in den USA die Rassentrennung offiziell aufgehoben worden. Aber vielerorts wurden dunkelhäutige Menschen weiterhin diskriminiert.

Das war das Problem: Jeanne ist eine Weisse, Steves Haut ist schwarz. «Ich hatte Angst, dass der Ku-Klux-Klan ihn lynchen würde, wenn unsere Affäre herauskäme», erinnert sich die pensionierte Krankenschwester, die inzwischen in Portland (Oregon) lebt. Am schlimmsten war: Jeannes Eltern hatten die Liebschaft entdeckt und ihrer Tochter untersagt, Steve weiterhin zu sehen. Trotz der Gefahren, die ihnen drohten, setzte das Paar seine Beziehung acht Jahre lang heimlich fort. Jeanne heute: «Ich konnte ihn nicht gehen lassen. Ich liebte ihn doch so sehr.» Steve fügt bekräftigend hinzu: «Und ich war verrückt nach Jeannie.»

Als ihr Vater herausfand, dass die beiden nicht voneinander abgelassen hatten, tobte er: «Du ruinierst unseren Ruf. Schick ihn heim!» Schliesslich gaben die jungen Leute ihren Widerstand auf und willigten in die Trennung ein. «Wir brachen jede Kommu­nikation ab», erzählt Steve. Während Jeanne als Krankenschwester tätig wurde, nahm Steve eine Arbeit in einem entlegenen Stadtteil Chicagos auf. Beide heirateten andere Partner, wurden geschieden, ohne Kinder. Obgleich Jahrzehnte und unzählige Kilometer sie trennten, vergassen sie einander nie. Im Laufe der Jahre versuchten beide von Zeit zu Zeit, Kontakt aufzunehmen. Steve: «Aber immer kam etwas anderes dazwischen.» Bis Jeanne den Mann ihrer Träume tatsächlich 2021 wiederfand: 42 Jahre nach dem schmerzvollen Abschied.

Unzählige Male hatte sie das Internet auf der Suche nach Steve Watts durchforstet. «Alle Hin­weise verliefen im Nichts. Es war, als habe er nie existiert. Oder er war tot.» Dann stiess sie auf jemand, der mit Steve verwandt sein könnte. Sie schickte eine Nachricht – und schon wenige Stunden später klingelte ihr Telefon. Es war der verlorene Liebste ihrer Jugend.

Jeanne: «Steve sagte, er lebe in einem Altersheim. Sei sehr schwach. Trotzdem war dies der schönste Augenblick meines Lebens. Er lebte!» Sie schrieb ihm einen Brief. Wochen vergingen ohne Antwort. Das kümmerte Jeanne nicht. Als sie im Heim anrief, informierte das Personal sie, man könne das Telefon nicht an Mr. Watts weiterleiten. Ohne einen Grund zu nennen.

Das war der Augenblick, an dem die resolute Jeanne beschloss, das Buch ihrer Liebe weiterzuschreiben: Sie kaufte ein Flugticket nach Chicago. «Am Empfang des Altersheim erwähnten sie, ich sei Steves erster Besuch in einem Jahrzehnt.» Jeanne hörte, dass er seit 16 Jahren im Heim lebte, zwei Schlaganfälle erlitten und sein linkes Bein verloren hatte. Nicht gerade der Mann, an den sich die verliebte Frau erinnerte. Doch das tat ihrer Sehnsucht keinen Abbruch. Sie bat das Personal, ihm nicht zu sagen, wer auf ihn warte.

Eine Angestellte schob den Mann im Rollstuhl in den Empfang. Kaum hatte Steve die Besucherin erblickt, da erstrahlte sein Gesicht. «Jeanne! Du?», rief er. «Im selben Augenblick wusste ich, dass er mich liebt, und dass auch ich ihn immer lieben werde. Er ergriff meine Hand und liess sie nicht mehr los. Wir weinten eine halbe Stunde lang. Auch wenn er anders aussieht − er ist noch derselbe, hat denselben Humor, ist wundervoll.»

Sie pflegte Steve eine Woche lang und kehrte zurück nach Portland. Nun sprachen sie jeden Tag am Telefon. Jeanne überlegte: Wie sollte es weitergehen? Sie wollte mit ihrer wiedergewonnenen Liebe zusammen sein. Sollte sie zu ihm ins Altersheim ziehen? Dazu war sie noch nicht bereit. Ein paar Wochen danach traf Jeanne erneut im Heim ein – mit einem fertigen Plan: «Ich würde Chicago diesmal nicht ohne ihn verlassen.»

«Willst du mit mir heimkommen?» fragte sie. «Ich folge dir, wohin du willst», war seine Antwort. Jeanne hob ihre Ersparnisse ab. Für 13 000 Franken mietete sie eine Ambulanz. Und dann fuhren die zwei Anfang August 2021 zusammen die über 3400 Kilometer bis nach Portland. Die wenigen Wochen, die Steve inzwischen in Jeannes professioneller Obhut ist, haben Wunder vollbracht. «Es geht ihm jeden Tag besser», stellt sie fest. Und was sagt Steve?«Sie hat mich gerettet!»