«Kein Kind darf auf einer Klassenfahrt sterben»

Der kleine ­Vincent wurde beim Spielen von einer unge­sicherten Bergbau-Lore überrollt. Auch Jahre nach ­seinem Tod kämpfen seine Eltern noch immer um Gerechti­gkeit.

Warum ich keine Angst vor dem Tod habe? Weil ich weiss, dass du im Himmel auf mich wartest und mich an die Hand nehmen wirst!» Es sind die herzzerreissenden Worte einer Mutter. Gerichtet an ihren geliebten Sohn, den sie 2019 viel zu früh zu Grabe tragen musste.

Seither kämpfen Kathleen (43) und Sven D. (47) aus dem deutschen Wolfsburg um Gerechtigkeit für ihren kleinen Vincent. «Wir haben ihn immer wie unseren Augapfel gehütet», sagen die Eltern. «Und dann vertrauen wir unser Kind anderen Menschen an, lassen ihn ziehen auf die erste grosse Reise. Kein Kind der Welt darf auf einer Klassenfahrt sterben.»

Seit dem 18. Juni 2019 ist alles anders für die junge Familie. Eine neue Zeitrechnung fing an, und sie begann auf dem Gelände des Waldpädagogikzentrums (WPZ) in Hahnhorst (Niedersachsen). Vincent († 10) sollte dort auf einem Schulausflug den Lebensraum Wald näher kennenlernen. Das Gelände der Herberge war einmal eine Erzberg-Baugrube; 2019 erinnerte daran nur noch eine ausgestellte Lore.

Der Transportwagen, der auf einem 100 Meter langen Schienenstück stand, war noch beweglich. Als die Kinder morgens nach dem Frühstück auf der Lore tobten, geriet Vincent plötzlich unter die Räder des mehrere hundert Kilo schweren Gefährts und wurde überrollt. Er starb vor den Augen seiner Mitschüler.

«Jeden Tag, wenn ich ins Büro fahre, durchlebe ich den Horror, wie mir die Nachricht überbracht wurde», erzählt Vater Sven. «Es läuft immer wie ein Film ab. Wie ich in der Firma in den Besprechungsraum gerufen wurde. Wie dort die Polizei und jemand von der Seelsorge sassen. Die Mitteilung, dass es einen Unfall gab – auf Klassenfahrt. Mit Vincent. Und dass er es leider nicht überlebt hat. Ich dachte, ich werde ohnmächtig. Und wusste nicht, wie ich das meiner Frau sagen soll.» Die Polizei habe ihn nach Hause gefahren. «Dieser Weg – meiner Frau gegenüberzutreten und ihr zu sagen, dass ihr Kind, unser Sohn, tot ist – war enorm schlimm. So muss der Gang durch die Hölle sein», erinnert sich der Konstrukteur, der bei einem VW-Zulieferer arbeitet, weiter.

«Ich hätte die Welt an dem Tag gern angehalten», erklärt Mutter Kathleen. «Dann müsste keiner mit diesem unbeschreiblichen Schmerz, mit dieser endlosen Trauer und dieser Leere leben.» Der Anblick ihres toten Sohnes, sagt sie, werde sie für immer begleiten. «Bis zu meinem Tod.»

Seit mehr als dreieinhalb Jahren verfolgt die Familie mit Trauer und Wut, wie die Behörden bei der rechtlichen Aufarbeitung versagen. Verletzten die Lehrer ihre Aufsichtspflicht? Welche Schuld tragen die Betreiber der Herberge? Bis heute gab es keinen Prozess, keinen Schuldspruch, keinen
Verantwortlichen. Die Familie kämpft trotzdem weiter – auch und vor allem für ihre Tochter Nova, die jetzt so alt ist wie Vincent bei seinem Unfall. «Ohne sie», sagt Vater Sven, «gäbe es uns wahrscheinlich nicht mehr.»

Kathleen ist seit dem Unglück in psychologischer Behandlung, kann nicht mehr arbeiten. «Was läuft in diesem Land nicht richtig?», fragt sie sich täglich aufs Neue. «Wir wollen nicht, dass Vincent vergessen wird. Jeder soll wissen: Er hätte dort nie sterben dürfen! Menschen haben schwere Fehler gemacht!»

Auf Nachfrage teilt die zuständige Staatsanwaltschaft in Verden mit, dass gegen den Leiter des Heimes und eine Mitarbeiterin Anklage wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen erhoben wurde. Bei der Einweisung sei die Schulklasse nicht auf die Beweglichkeit der Lore hingewiesen worden. Ein Funken Hoffnung auf Gerechtigkeit für die Eltern – 1244 Tage nach dem Tod ihres Sohnes!