Kampf gegen Schmerz und Einsamkeit

Wenn Andrea (51) frühmorgens aufsteht, stellt sie zuerst das Radio an und tanzt ausgelassen zu der Musik. «Ich liebe es, so abzuschalten, meine Schmerzen zu vergessen und nicht mehr an das zu denken, was hinter mir liegt.»

Hinter ihr liegt ein Leben voller Leid und Verzicht – ein Leben, in dem sie sogar daran gedacht hat, einfach aufzugeben. Andrea kommt aus einem Dorf im Oberallgäu und war gerade mal zehn Jahre alt, als sie über Schmerzen im Rücken klagte. Später entdeckten Ärzte eine Verdickung am Schulterblatt, und in der Pubertät bekam sie die Schockdiagnose Skoliose – eine unheilbare Erkrankung der Wirbelsäule, vermutlich ausgelöst durch eine zu schwere Schultasche. «Ich hatte ständig Schmerzen, dazu einen Buckel und fühlte mich wie eine Hexe.»

Doch dann rüttelte sie sich auf, beschloss, ihr Schicksal anzunehmen und sich einen Platz im Leben zu erkämpfen, mit Disziplin und Lebensfreude. Sie suchte Geselligkeit, zog mit Freundinnen los, schaffte die Schule und wurde später Hauswirtschafterin. Die Schmerzen gehörten zu ihr.

Sie bekämpfte sie, nahm Tabletten, machte regelmässig Therapien, Gymnastik, verbrachte viele Wochen in Reha-Kliniken und erhielt sich so ein lebenswertes Leben. Als sie sich mit 30 Jahren verliebte, glaubte sie, es geschafft zu haben. «Ich dachte, die Liebe macht alles noch leichter.» Doch es kam anders. Die Ehe empfand sie rasch als lieblos, kalt, distanziert. «Mein Mann hat sich schon immer Mühe gegeben, aber wir haben uns nicht erreicht. Wir sind zu unterschiedlich.» Als sie schwanger wurde, gab sie die geliebte Arbeit auf und landete in einer für sie unerträglichen Isolation.

Mit Ende 30 war sie so verzweifelt, dass sie die Scheidung wollte. Doch die Familie überredete sie zu bleiben, zumindest so lange, bis die Tochter grösser wäre.  Andrea hielt durch – zehn endlos lange Jahre lang. «Die Zeit mit meiner Tochter war grossartig, aber alles andere sehr, sehr schwer.»

Die Schmerzen setzten ihr immer mehr zu. Aber sie funktionierte, erfüllte die Pflichten, dachte an die Familie, aber nie an sich. Als die Tochter flügge wurde und eigene Wege ging, war das innere Alleinsein für Andrea unerträglich. Und der Körper rebellierte, immer öfter lag sie tagelang im Bett. «Ich war nur noch traurig, ohne jede Kraft und ohne jede Lebensfreude. Irgendwann fühlte ich mich mit dem Rücken an der Wand. Es gab nur eins: untergehen oder aufstehen.»

Andrea stand auf. Wie sie es ­geschafft hat? «Ich hatte den Überlebenswillen einer Ertrinkenden», erklärt sie. Und dann kam der 50. Geburtstag: Sie feierte ihn allein, es gab keine Blumen, keinen Besuch. Ein Datum, das sie wachrüttelte. Wenige Tage nach ihrem Geburtstag wollte sie die Trennung. Noch einmal Durchhalten kam für sie nicht in Frage. Sie regelte die Finanzen, suchte sich eine kleine Wohnung, fing mit dem Nötigsten neu an.

«Es war unfassbar. Kaum hatte ich mein altes Leben hinter mir gelassen, fühlte ich mich viel ­besser. Die Schmerzen wurden weniger, die fast schon verloren gegangene Lebensfreude kam zurück.» Sie tanzt plötzlich wieder. Sie kocht, liest und ist mutig, ­wieder Ziele zu leben. Sie kann Reportagen für eine Zeitung ­machen und steigt bei einem Skoliose-­Netzwerk ein. Heute gibt es Momente, da möchte Andrea die ganze Welt umarmen. «Ich bin unendlich froh, mein Leben neu in die Hand genommen zu haben und möchte allen zurufen: Seht mich an, es geht, man kann sein Schicksal ändern, immer und überall. Ich bin wieder glücklich, endlich!»