«Jetzt kann ich mich besser wehren»

Muriel war oft verschlossen. Doch seit sie Karate für Menschen mit Beeinträchtigung trainiert, ist die junge Frau aus Goldach SG geistig und körperlich fitter und sprüht vor Lebensfreude.

Ein Kampfschrei gellt durch die Trainingshalle. Geschickt hat Muriel den Angriff ihres Gegners pariert und mit einem präzisen Kick ihres rechten Beines den Kampf für sich entschieden. Mit einer Verbeugung erweist sie dem Unterlegenen ihren Respekt. Sie ist zufrieden: «Dank Karate bin ich besser trainiert und habe mehr Selbstvertrauen. Wenn mich jemand belästigt, reagiere ich ruhig, aber energisch: Stopp, komm nicht näher, ich weiss mich zu wehren!»

Muriel Widmer ist eines von 25 Mitgliedern mit einer Beeinträchtigung, die regelmässig in der Klosterguet-Turnhalle in Rorschacherberg SG unter der Leitung des Karatetrainers Alessandro Aquino den Kampfsport betreiben. Die 30-Jährige kam mit Trisomie 21, auch Down-Syndrom genannt, zur Welt und wurde als Baby am Herzen operiert.

Heute ist ihre Lebensfreude ungebrochen, sie fährt Ski, liebt das Tanzen und hört gerne Musik: Hansi Hinterseer und vor allem DJ Bobo. «Ich war an einem seiner Konzerte, er sah mich und hat mich begrüsst.» Muriels Mutter Katharina freut sich mit ihrer Tochter: «Vor dem Karatetraining war sie ziemlich verschlossen. Seit sie den Kampfsport betreibt, ist sie viel offener, ihre Körperhaltung hat sich verbessert, sie kann sich besser bemerkbar machen und ist körperlich sowie geistig reger.»

Auch Walter, Muriels Vater, staunt immer wieder, wenn sie ihm daheim in Goldach SG vorführt, was sie im Karateunterricht alles gelernt hat. Ihr fünf Jahre älterer Bruder, der keine Beeinträchtigung hat, kümmert sich noch heute liebevoll um seine Schwester. Als Kind fuhr er sie mit seinem Velo spazieren, brachte ihr das Rollschuhfahren bei und beschützte sie. «Als Muriel kleiner war und sich noch nicht so gut wehren konnte», erinnert sich Katharina Widmer, «nahm Jérôme sie vor neugierigen oder unflätigen Zeitgenossen in Schutz mit den Worten: ‹Das ist meine Schwester, lass sie ja in Ruhe.›» Karatetrainer Alessandro Aquino ist mit seinen Schülern zufrieden: «Das Training von Menschen mit einer Beeinträchtigung ist gleich wie bei den anderen. Es braucht nur etwas mehr Geduld.»

Wenn ein Mensch ein geistiges Handicap hat, heisse das nicht, dass er einen nicht verstehe, sondern es dauere einfach etwas länger, bis er eine Übung begriffen habe. Karate fördert auch den Zusammenhalt. Die Teilnehmer der Karategruppe agieren getreu ihrem Motto: «Wir kämpfen nicht gegeneinander, sondern miteinander.» Alle sind mit Feuereifer dabei – und haben Erfolg.

Das zeigte sich auch im Sommer 2014 anlässlich eines internationalen Karateturniers in Rom, an dem Aquino mit seinen Schützlingen teilnahm. Sie errangen vier Gold- und vier Bronzemedaillen sowie einen Pokal. Stolz zeigt Muriel ihre Goldmedaille: «Aus lauter Freude darüber habe ich noch in der Sporthalle zu tanzen begonnen.»

Muriel trägt den 4. Kyu, den violetten Gürtel, und trainiert eifrig für den nächsten, den braunen. «Ich träume sogar von einem schwarzen Gürtel, dem 1. Dan.» Und sie hofft auf weitere Goldmedaillen – «so eine wie damals in Rom», sagt sie und lächelt.

Muriel in ihrer Karategruppe: Der Sport gibt ihr Selbstvertrauen.

Muriel in ihrer Karategruppe: Der Sport gibt ihr Selbstvertrauen.

Karate für alle

Die Crowdfunding-Plattform «lokalhelden.ch» wurde von Raiffeisen lanciert. Das Spendenportal ermöglicht Institutionen, Vereinen und Privatpersonen, Spenden für gemeinnützige Projekte zu sammeln. So gelang es Alessandro Aquino (50), Spenden für die Trainer-Ausbildung und die Beschaffung der Trainingsanzüge für Kursteilnehmer mit Handicap zu sammeln. Der Cheftrainer der Wadokai-Karateschule gründete auch «Karate für alle» (www.karate4all.ch). Er unterrichtet zusammen mit dem Verein zugunsten Menschen mit geistiger Beeinträchtigung die «insieme»-Gruppe (www.lokalhelden.ch/karate-fuer-alle).