Jeden Morgen kommen die Tränen

Petra aus Zürich ar­beitet seit Monaten Vollzeit im Home­office. ­Abgesehen von ihrer Mutter hat sie nur ­wenig Kontakt zur Aussenwelt. Sie fühlt sich antriebslos, traurig und einsam. Wie ihre Situation ändern, weiss sie nicht.

Ihr Kopf ist beim Gehen nach unten gebeugt, der Blick auf die Strasse fixiert. Was um sie herum geschieht, nimmt Petra kaum wahr. Zu sehr ist sie mit sich selbst beschäftigt, mit ihrer Situation, die sie quält, und von der kein Ende in Sicht scheint.

Die 41-Jährige ist eine von vielen, die unter der aktuellen Corona-­Situation leiden. Nicht, weil sie den Covid-19-Virus erwischt hat. Sondern weil sie den ganzen Tag allein zu Hause sitzt. Dort, wo sie bis im März noch ihre Feierabende genoss, muss sie nun auch ar­beiten. Keine Abwechslung, kein Kontakt zu den Bürokolleginnen und -kollegen, kein Austausch.

«Ich war so froh, als ich im Sommer wieder zwei Tage pro Woche an meinen Arbeitsplatz gehen konnte», sagt die Singlefrau. Der Lockdown im Frühling habe sie schon bedrückt. «Aber da hatten alle das Gefühl, es sei bald vorbei. Dann kam der Sommer, in dem man sich wieder sehen konnte, abmachen, ausgehen. Da dachte man, jetzt kommt alles gut.»

Die zweite Welle der Pandemie bedeutete für die Buchhalterin eine Rückkehr zu 100 Prozent ins Homeoffice. Schleichend verschlechterte sich ihr Gemütszustand. «Im Frühling fand ich das eigentlich noch lässig. Ich konnte mir meine Zeit mehr oder weniger selbst einteilen. Wenn ich mal ausschlafen wollte, erledigte ich die ‹Büez› am Abend.»

Doch nun wünscht sich Petra, dass sie jemand am Morgen aus dem Bett holte. «Ich stand immer später auf, weil ich mein warmes Nest nicht verlassen mochte. Am liebsten würde ich den ganzen Tag durchschlafen.» Und wenn sie dann endlich aufgestanden sei, kämen die Tränen – einfach so. «Ich weine fast jeden Morgen. Ein trauriger Gedanke, ein Lied am Radio, meine Situation – es braucht wenig bis nichts, um mich zum Heulen zu bringen.»

Sie gesteht, dass sie in letzter Zeit öfter mal unter der Woche eine Flasche Wein für sich allein öffne. «Das habe ich früher nie getan. Ich bin eigentlich eine typische Gesellschaftstrinkerin.»

Was mit ihr los ist, weiss die Zürcherin selbst nicht so recht. «Ich hatte in meinem Leben zwar schon Phasen, die man vielleicht als depressiv bezeichnen könnte.» Sie sträubt sich jedoch gegen diese Diagnose. «Ich gehe sicher nicht zum Arzt, nur weil ich im Moment nicht grad die Fröhlichste bin. Ich bin ja nicht die Einzige, der es zurzeit schlecht geht. Und ich will keine komischen Pillen schlucken.» Menschen im Umfeld, mit denen sie reden könnte, hat Petra schon. «Aber ehrlich: Wer will hören, dass ich jeden Morgen als Erstes mal eine Runde grundlos ‹lätsche›?»

Petras engste Vertraute ist ihre Mutter. «Wir haben eine sehr starke Bindung. Sie ist aber natürlich nicht mehr die Jüngste. Und um sie bei meinen Besuchen nicht in Gefahr zu bringen, vermeide ich möglichst alle anderen Kontakte, bei denen ich mich anstecken könnte.» Auch der Mutter erzählt sie nicht, wie schlecht es ihr geht: «Sie würde sich nur extrem Sorgen machen, und das will ich nicht.» Mal abgesehen davon habe sie selbst ebenfalls ziemlich «Schiss» vor einer Ansteckung. «Was Leute erzählen, die Corona hatten, ist teilweise schon krass. Darunter sind auch welche in meinem Alter.»

Eine kleine «Auszeit von sich selbst» hat Petra bei Nachbarn gefunden. «Wir leben schon Jahre im gleichen Block, kennengelernt haben wir uns aber erst diesen Sommer.» Die Nachbarn arbeiten ebenfalls im Homeoffice und haben einen Hund. «Ich mag Tiere. Nun gehe ich ab und zu mit auf einen Spaziergang.» Sie wisse, dass sie mehr solche Sachen un­ternehmen sollte. «Aber mir fehlt einfach die Energie. Es ist nicht so, dass ich mit Arbeit überlastet bin, aber alles Zusätzliche wird mir sofort zu viel.» Dann setzt sie sich lieber vor den Fernseher und öffnet eine Flasche Wein.

Zu professionellen Gesprächspartnern hat sie eine zwiespältige Einstellung: «Bisher ist es auch ohne gegangen. Vielleicht würde es tatsächlich helfen, aber irgendwas hält mich davon ab. Wenn ich so darüber nachdenke, ist es ein typisches Beispiel für meine Antriebslosigkeit. Ich mag einfach nicht.» Petras Hoffnung ist, dass die Pandemie ein baldiges Ende hat und mit einer Rückkehr in ihren gewohnten Alltag alles wieder gut wird.

DARÜBER REDEN. HILFE FINDEN.

Viele Menschen in der Schweiz leiden auch seelisch unter den Auswirkungen der Coronakrise. «DARÜBER REDEN. HILFE FINDEN» heisst der Aktionstag, der vom BAG initiiert wurde und am 10. Dezember 2020 stattfindet. Die Hilfsorganisationen Pro Mente Sana, Dargebotene Hand, Pro Juventute, Pro Senectute, Caritas und das Schweizerische Rote Kreuz widmen sich gemeinsam mit Ringier, der SRG (alle vier Sprachregionen) und vielen weiteren Akteuren den verschiedensten Aspekten des Themas «psychische Gesundheit». Menschen in schwierigen Situationen erfahren Solidarität und werden über konkrete Hilfsangebote informiert. Der Tag sensibilisiert die Gesamtbevölkerung dafür, im Umfeld aufmerksam zu sein und Hilfe zu leisten. Weitere Informa­tionen: www.bag-coronavirus.ch/hilfe