Ihre Ehe stand auf der Kippe

Walter Raaflaub litt an Prostatakrebs und musste operiert werden. Hier erzählen der ehemalige Arzt und seine Frau Renata ganz offen, was das für die Beziehung bedeutete.

Er nimmt die Kurven im Simmental zügig, denn Walter Raaflaub (78) kennt die Strasse gut. Viel zu zügig, denkt seine Frau Renata (70), die neben ihm sitzt. Die Anästhesistin schweigt – vorerst. «An deinen Sarg werde ich Räder montieren lassen», meint sie nach einer Weile mit dem ihr eigenen trockenen Humor. «Bis Zweisimmen lachten wir über diesen Scherz», erinnert sich der pensionierte Allgemeinpraktiker aus dem bernischen Schönried.

Die beiden können wieder zusammen lachen. Das war lange Zeit nicht mehr der Fall: 2002 wurde bei ihm Prostatakrebs diagnostiziert, er entschloss sich zu einer radikalen Entfernung der Prostata. Als Arzt wusste er: Wenn auch nur eine Krebszelle aus der Prostatakapsel austritt, wird es lebensgefährlich. Die 2003 erfolgte Operation verlief gut. Doch die Folgen waren Impotenz und Inkontinenz.

In der Schweiz erkranken jedes Jahr annähernd 6100 Männer an Prostatakrebs, 1300 sterben daran. Rechtzeitig zum Europäischen Prostata-Tag erschien kürzlich Walter Raaflaubs Buch «Tote Hose» aus dem Jahr 2007 als Taschenbuch. Das Original war nach drei Auflagen vergriffen. Darin spricht das Ehepaar Raaflaub sehr offen über ihr Leben, ihre Gefühle und ihr Sexualleben vor und nach der Operation.

Das braucht Mut. Haben sie, Eltern von zwei erwachsenen Söhnen, nie befürchtet, die freimütige Beschreibung könnte ihrem Ruf schaden? «Daran haben wir nie gedacht», antwortet Renata Raaflaub, «es wird ja viel über Sex geredet und geschrieben, aber meistens nicht so offen und objektiv.» Ihr Mann fügt an: «Wir haben nichts zu verbergen. Das Buch fand grossen Anklang, und wir erhielten sehr viele positive Zuschriften von Menschen in einer ähnlichen Situation.» Raaflaubs Werk basiert auf seinem Tagebuch, das er 2002 begann, «um die eigenen Depressionen, Ängste, Frustrationen und Spannungen in der Beziehung verarbeiten zu können».

«Es war zum Verrücktwerden», erinnert er sich, «mit 61 Jahren war ich wieder in den Windeln.» Seine Frau präzisiert: «Für ihn war dies schlimmer als Impotenz.» Nach einer Operation denke man nicht an Sex, fährt er fort, «aber kaum ist man aus dem Spitalbett, ist es grauenhaft, den Urin nicht halten zu können». Im November 2005 wurde ihm eine Blasenschliessmuskel-Prothese implantiert, was seine Lebensqualität enorm verbesserte.

Doch das Problem Impotenz blieb. «Ich ging zu keinem Psychiater, weil ich dachte, das schaffen wir zwei schon. Viele Ehen zerbrechen daran. Ich fühlte mich wertlos und hatte ein schlechtes Gewissen meiner Frau gegenüber, weil ich nicht mehr Sex haben konnte. Mit meinem Krebs, meiner Impotenz und meinem Gejammer habe ich Renata extrem viel zugemutet.»

Sie lebten sich auseinander und redeten kaum noch miteinander – bis sie im Badezimmer wegen einer Bagatelle heftig aneinandergerieten, und Renata explodierte. «Ich war zornig, weil ich in diesen schwierigen Monaten normal weitermachen wollte, ohne Sex zu erwarten. Er hat mich jedoch immer wieder abgewiesen, weil er dachte, ich wolle mehr und meine Zuneigung sei nur vorgetäuscht.» Irgendwann zog auch sie sich zurück.

Doch der Eklat im Bad war wie ein reinigendes Gewitter. Sie besannen sich – und ein nächtelanges, befreiendes Gespräch brachte sie einander wieder näher. «Wir hatten den Willen, die blockierte Beziehung wieder zu öffnen», so Renata Raaflaub. Und ihr Mann erinnerte sich endlich an die Worte eines Freundes: Zärtlichkeit ist wichtiger als Penetration.

«Es brauchte Zeit und Geduld, aber wir haben es geschafft, unsere Ehe ist lebendiger und tiefer geworden», stellt er fest. Und sie ergänzt: «Das ist so, weil wir alle Probleme noch offener besprechen.» Dazu gehört auch die Impotenz. «Heute haben wir hie und da noch Sex, aber er muss geplant sein, weil ich Hilfsmittel anwenden muss.» Walter Raaflaub hat von Penis-Injektionen bis zu Penispumpen einiges ausprobiert. «Bei Sex mit Hilfsmitteln braucht es viel Humor, sonst wird es mühsam», schmunzelt er. An diesem mangelt es beiden offensichtlich nicht.

«Mag es in der Hose tot sein – das Leben geht weiter», sinniert er. «Ich hatte Glück, denn wäre der Krebs nicht rechtzeitig entdeckt worden, sässe ich nicht hier.» Der Humor, vor allem der seiner Frau, hat ihm geholfen, alles besser zu ertragen. «Nach 46 Ehejahren stehen wir uns näher als je zuvor», meint Renata Raaflaub lächelnd, «was will man mehr?»

Buchtipp

 

Walter Raaflaub: «Tote Hose – worüber Männer schweigen», Verlag Wörterseh, Fr. 17.90.