«Ich kann nicht den Rest meines Lebens mit Wut verschwenden»

23 Jahre lang sass Debra Milke unschuldig im Gefängnis. Sie wurde wegen Mordes an ihrem fünfjährigen Sohn verurteilt, den sie nicht begangen hatte. Nun spricht sie über die gestohlene Zeit.

Es ist ein Wunder, dass sie wieder so herzlich lachen kann. Ihr Martyrium sieht man ihr nicht an. 23 Jahre sass die in Berlin geborene Debra Milke (51) in den USA in der Todeszelle, weil sie ihren Sohn getötet haben sollte (siehe Box unten). Sie erinnert sich mit Schaudern an ihren ersten Tag im Frauengefängnis in Arizona. «Ich wurde regelrecht vorgeführt. Ich musste durch das ganze Gefängnis zu meiner Zelle gehen. Es wurden mir dort schreckliche Dinge zugerufen.» Sie sei weitergegangen und habe gedacht: Ich bin hier nicht zu Hause, ich werde hier nicht sterben, und eines Tages werde ich hier rauskommen. Sie habe in diesem Moment viel empfunden: «Trauer und Schmerz.» Die ganzen Jahre verbrachte sie in Isolationshaft. Es war ihr nicht erlaubt, Bilder aufzuhängen oder die Zelle irgendwie persönlich zu gestalten. «Ich hatte ein Fotoalbum, dort durfte ich Bilder einkleben.» Auch Körperkontakt war nicht erlaubt.

Routine war ihr wichtig. Jeden Morgen stand sie um vier Uhr auf, schrieb Briefe und machte sich Notizen. Einmal pro Woche durfte sie hinaus auf den Hof, dreimal pro Woche duschen. Sehr wichtig für sie war ihr kleiner Fernseher. Sie schaute Tag und Nacht Reiseberichte und Nachrichten. Ihr war wichtig, dass sie den Draht zur Aussenwelt nicht verlor.

1998 wurde plötzlich ein Hinrichtungstermin festgesetzt. «Ich wurde nach meinen Wünschen für die Henkersmahlzeit gefragt und was nach dem Tod mit meiner Leiche passieren sollte. Dann begutachtete ein Doktor meine Venen – ob sie gesund genug waren, damit ich umgebracht werden könnte.» Debra hatte sich für die Todesspritze und gegen den Tod durch Gas entschieden. Ihre Anwälte konnten die Hinrichtung jedoch abwenden. Für die Freilassung kämpfte auch vehement ihre Mutter Renate Janka, die in der Schweiz lebte. Am 9. August 2014 starb sie im Alter von 71 Jahren an Eierstockkrebs. Sie hatte ihre Tochter nach der Freilassung in den USA noch zweimal sehen dürfen.

Den Tod der wahren Mörder, die in Haft sind, wünscht sich Debra Milke nicht. «Die Todesstrafe macht keinen Sinn, dadurch wird mein Sohn nicht wieder lebendig. Ich war nie rachsüchtig und möchte mein Leben nicht mit Wut verschwenden.» Die beiden Täter würden ja sowieso eines Tages im Gefängnis sterben. Sie hat sich auch damit abgefunden, dass sie die Wahrheit über den Tod ihres Sohnes, dessen Leiche verbrannt wurde, nie erfahren wird. Zur Trauerfeier war sie nicht zugelassen. Die Asche hat ihr Ex-Mann. «Aber er weigert sich, mir die Urne zu geben, nicht einmal Fotos.» An den Sohn bleibt ihr eine letzte Erinnerung aus dem Jahr 1989: «Als wir uns verabschiedet haben, habe ich ‹tschüss› gesagt und ‹bis später› – und dass ich ihn liebe.»

Und wie geht es Debra Milke heute? Sie hat in Amerika einen Teilzeitjob in einer Anwaltskanzlei. «Manchmal besuche ich meine Tante in Berlin, und ich halte Vorträge vor Studenten.» Sie weiss noch nicht, ob sie je eine Entschädigung für die verlorenen Jahre bekommen wird.

Am glücklichsten sei sie, wenn sie Zeit mit ihrem erwachsenen Neffen verbringen könne, dem Sohn ihrer Schwester. «Jason ist der einzige Grund, warum ich noch in den Staaten bin.» Und sie hat 13 Kilo zugenommen, freut sich, dass sie wieder Schokoladenglace essen kann. Eines hat sie sich vorgenommen: «Ich werde nie mehr fernsehen. Ich habe im Gefängnis so viel TV geschaut, das reicht für den Rest meines Lebens!»



Was damals geschah

Es war der 2. Dezember 1989: Debra Milkes Mitbewohner James Styers (42) und sein Freund Roger Scott (42) erschossen ihren fünfjährigen Sohn Chris, den sie während ihrer Ehe bekam, die jedoch scheiterte. Nach seiner Verhaftung behauptete Scott, Debra habe den Mord in Auftrag gegeben, um eine Lebensversicherung in Höhe von 5000 Dollar einzustreichen. Dann wurde Debra von einem Ermittler verhört, der schon einmal unter Eid gelogen hatte. Im Prozess sagte er, Debra habe ihm die Anstiftung zum Mord gestanden. Aber es gab kein Protokoll. Am 18.1.1991 wurde sie zum Tode verurteilt. Später stellte sich heraus: Styers ist schizophren, der Ermittler ein notorischer Lügner. Es gab keinen Beweis und Debra Milke wurde freigesprochen.


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