«Ich kämpfe für eine bessere Welt»

Nur mit viel Glück entkam Bronislaw Erlich während des Zweiten Weltkrieges dem Tod im KZ. Heute setzt sich der 94-Jährige gegen das Vergessen der Nazi-Gräuel ein und für ­eine Gesellschaft, in der Frieden herrscht.

Noch heute schreckt er jede Nacht aus dem Schlaf hoch. Denkt an seine Familie, die von den Nazis ermordet wurde. Bronislaw Erlich ist einer der rund 480 in der Schweiz wohnenden Juden, die den Holocaust überlebt haben.

Die Familie Erlich betrieb in Warschau ein Schneidergeschäft und war glücklich – bis 1939 die Wehrmacht Polen überfiel. Um ihre Kinder zu schützen, setzten die Eltern Bronislaw in einen Zug, der ihn in den russischen Teil Polens brachte. Sein Bruder Mosze und seine Schwester Bracha flüchteten ebenfalls, nur der Jüngste blieb daheim. Der Abschied am Bahnhof war herzzerreissend – der 16-Jährige ahnte nicht, dass er seine Eltern nie mehr wiedersehen würde. «Immer wieder sehe ich meine Mutter vor mir, wie sie mir nachwinkt.»

Mosze kämpfte ab 1941 in der russischen Armee an vorderster Front. Bracha wurde in ein Lager nach Sibirien gebracht. Bronislaws Mutter, damals 45 Jahre alt, sein Vater und sein jüngster Bruder waren später im Warschauer Getto eingeschlossen. Nachdem der Aufstand der Juden 1943 blutig niedergeschlagen wurde, kamen die Überlebenden ins KZ Auschwitz oder Treblinka. «Ich weiss nicht, ob meine Familie im Getto an Hunger oder im Kugelhagel der Deutschen starb oder in einer Gaskammer. Welch qualvollen Tod mussten sie wohl erleiden?», seufzt Erlich.

Er selbst geriet nach dem Angriff Hitlers 1942 auf die Sowjetunion doch in die Fänge der Deutschen und erlebte im Lager Wolkowosyk die Hölle: Hunger, Kälte und Gewalt. Wenig später wurden er und Mitgefangene in die gleichnamige Stadt gebracht, wo sie die jüdischen Wohnungen plündern mussten.

Nach einem Fluchtversuch wurde er erneut geschnappt, konnte sich aber vorher eine gefälschte Geburtsurkunde beschaffen, die ihn als Pole auswies. Darum landete er nicht im Konzentrationslager, sondern wurde als Zwangsarbeiter nach Deutschland verfrachtet; in Thüringen erlebte er das Kriegsende.

Dort lernte er seine zukünftige Frau Anna kennen. «Es war Liebe auf den ersten Blick», meint er versonnen. Nach dem Krieg kehrte er mit Anna nach Polen zurück und arbeitete in der Druckereibranche. Gleichzeitig suchte er hartnäckig nach seiner verschollenen Familie. Wie durch ein Wunder fand er in Breslau seinen Bruder und seine Schwester.

Nach Aufenthalten in Israel und Deutschland kamen die Erlichs, inzwischen stolze Eltern zweier Kinder, 1961 in die Schweiz und liessen sich im bernischen Belp nieder. Obwohl Erlich als Verkaufsleiter beruflich sehr engagiert war, hat er es sich zur Lebensaufgabe gemacht, über die Gräuel, die sechs Millionen Juden das Leben kosteten, zu erzählen und zu schreiben. Darum verfasste er auch das 2007 erschienene Buch «Ein Überlebender berichtet». Zudem hält er an Universitäten und Gymnasien Vorträge «damit auch die jungen Leute begreifen, was während des Krieges den Juden und unzähligen anderen Menschen angetan wurde, welche Gefahr auch heute von Nazifreunden und Antisemiten ausgeht und wie man verhindert, dass sich solche Verbrechen wiederholen». Bronislaw Erlich hat nie einen Psychologen konsultiert. «Wie kann man einem Menschen helfen, der geknechtet wurde, zusehen musste, wie Menschen erschossen wurden und nur darauf warten kann, bis er an der Reihe ist?»

Trotz allem ist er zuversichtlich: «Ich setze mich ein für Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Frieden.» Er hofft auf eine bessere Welt. «Wenn ich mit meinem Engagement etwas dazu beitragen kann, ist das ein Trost für mich und gibt mir die Kraft weiterzukämpfen – bis zum letzten Atemzug.»

Bronislaw mit seiner Ehefrau 1976 in Belp und mit seinem Bruder Mosze im Jahre 1946. Ganz rechts: Foto der Familie Erlich aus dem Jahre 1964 (v. l.): Anna, Ehemann Bronislaw, die Kinder Christine und Michael.

Bronislaw mit seiner Ehefrau 1976 in Belp und mit seinem Bruder Mosze im Jahre 1946. Ganz rechts: Foto der Familie Erlich aus dem Jahre 1964 (v. l.): Anna, Ehemann Bronislaw, die Kinder Christine und Michael.

Hilfe tut not

Die rund 480 Holocaust-Überlebenden in der Schweiz sind traumatisiert, und viele von ihnen verbringen ihren Lebensabend in Armut. Das hat Anita Winter, selber Tochter von Holocaust-Überlebenden, 2014 bewogen, die «Gamaraal-Foundation» zu gründen. Die in Zürich domizilierte Stiftung unterstützt diese Menschen finanziell und hilft ihnen, mit ihren Traumata umzugehen; zudem setzt sie sich für Menschenrechte und Genozidprävention ein. Spendenkonto: CH98 0023 0230 5643 4840V. Weitere Informationen unter www.gamaraal.org