«Es flossen viele Tränen»

Als Kind erlebte der junge Mann im Bürgerkrieg in Sri Lanka viel Leid und grosse Not. Heute wohnt er in der Schweiz und arbeitet als Bodyguard.

Erinnerungen an Sri Lanka? Solche habe er ganz wenige. «Ich war damals vier, war meistens im Arm meiner Mutter», sagt Siva Ganesu (33), dessen Künstlername Siga ist. «Eigentlich habe ich fast alles ver­gessen – oder vielleicht sogar verdrängt.» Sein Vater war wegen des Bürgerkriegs bereits nach Deutschland geflohen. «Er wollte uns rüber­holen. Da passierte etwas Schreckliches: Das Nachbarhaus wurde bombardiert. Wir mussten schnell weg.» Der Schleuser versprach der Mutter denselben Weg, den schon der Vater genommen hatte. Natürlich klappte nichts wirklich. «Ich erinnere mich, dass sie und meine zweijährige Schwester oft weinten. Einmal stürzte die Mutter, und wir fielen alle zu Boden. Weil wir dringend weiter mussten und sie den verletzten Fuss nicht richtig ausheilen konnte, leidet sie noch heute darunter.»

Die Flucht zu Fuss, im Lastwagen mit ganz vielen Menschen zu­sammengepfercht – viele starben dabei – und ein Teil auch mit dem Flugzeug: «Nach zweieinhalb Monaten schafften wir es schliesslich nach München, wo der Vater und ein Onkel uns erwarteten und in die Arme schlossen. Es flossen viele Tränen der Wieder­sehensfreude.» Die Flucht sei so gewesen, wie man es heute im Fernsehen sehen könne: brutal! «Auch die Schlepper waren nicht besser. Die, die es nicht schafften, hat man einfach liegen lassen.» Siva atmet tief durch, schüttelt den Kopf.

Das Leben im gelobten Deutschland fand erst mal im Asylheim statt. «Die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal», erinnert er sich. «Die vielen Nationa­litäten schufen untereinander Probleme. Chaoten warfen Molotow-­Cocktails auf unsere Unterkunft. Naziflaggen waren zu sehen, es war immer laut, man konnte kaum schlafen. Man mochte uns nicht, wir waren nicht willkommen.» Nach ein paar Tagen reiste die Familie weiter nach Hildesheim – der Vater hatte dort Asyl beantragt. Die Familie musste knapp vier Jahre bleiben. Siva Ganesa: «Un­sere Eltern hungerten, damit die Kinder genug zu essen hatten. Es gab Tage, an denen sie nichts assen, um uns durchzufüttern. Möbel und Matratzen für die spärliche Unterkunft holten wir uns auf dem Sperrmüll. Wir hatten wirklich nichts.»

Da es viele Alkoholabhängige und Drogensüchtige gab, die mit der Situation nicht klarkamen, eskalierte zuweilen die Gewalt. Später in Bielefeld wurden die Kinder eingeschult. «Spät – aber immerhin!», meint Siva. «Auch in der Schule spürte ich die Ablehnung der Mitschüler, die meine Hautfarbe nicht mochten. Man wollte nicht mit uns spielen, wir wurden verprügelt, ich wurde gehänselt, keiner half. Es war eine sehr schwere Zeit.»

Aufwärts ging es, als Siva beschloss, Bielefeld zu verlassen. Sein Leben sollte sich ändern. «Ich fing mit der Musik an und konnte damit vieles verarbeiten. Für mich war das mehr als Therapie gedacht. Ich reimte Texte und wollte auf die Bühne, hatte aber Angst davor, dass ich ausge­lacht werde.» Als er für seine Träume in Deutschland keine Zukunft sah, suchte er einen Job im Ausland. «Meine Eltern rieten mir ab und sagten: ‹Du kennst doch dort niemanden.› Ich setzte mich durch, hatte etwas in Zürich in Aussicht und kaufte ein Zugticket. Nur wusste ich, mit kaum Geld in der Tasche, nicht, wie teuer die Schweiz ist. So musste ich vor dem Vorstellungs­gespräch auf einer Bank im Hauptbahnhof übernachten.»

Siva schaffte es und wurde als Sicherheitsmann eingestellt. «Ich habe dem Chef imponiert, als ich ihm meine Geschichte erzählte. Er half mir auf der Suche nach einer WG, bezahlte mir die Ausbildung zum Bodyguard. Das öffnete mir viele Türen. Ich bin der Schweiz sehr dankbar, dass man mir die Türe öffnete, die ich suchte. Ich konnte meine Träume realisieren.»

Seit zwölf Jahren wohnt Siva Ganesu im Aargau, ist mit Frau Vishna und den zwei Kindern Levin (7) und Xenia (2) glücklich. «Meine Frau und ich haben viel gearbeitet, um ein eigenes Haus zu erstehen.» Auch mit der mu­sikalischen Karriere lief es bis zu Corona gut. «Statt Hip-Hop mache ich jetzt ‹anständige Musik›, weil ich den Kindern ein Vorbild sein möchte. Negative Texte können junge Menschen in die falsche Richtung lenken.»

Musik für alle

An seiner Musik sollen auch Gehörlose teilnehmen können: Das ist die Devise von Siga. Auf seinen Konzerten übersetzt eine Kollegin die Texte in die Gebärdensprache. Damit die Gehör­lo­sen die Vibrationen seiner Musik besser wahrnehmen können, lässt der mehrfache Europa­meister im Kickboxen die Bässe lauter aufdrehen und die Leute auf speziellen Böden mit Ballons in den Händen stehen.