Erster Spaziergang nach 68 Jahren im Gefängnis

Mit 15 Jahren wurde ­Joseph Ligon nach Raubüberfällen ein­gesperrt. Jetzt ist er frei und freut sich auf das Leben «wie ein Kind».

Als sich die Gefängnistore hinter Joseph Ligon schlossen, tobte der Korea-Krieg, Dwight D. Eisenhower war Präsident der USA, und die Sowjets testeten ihre erste Wasserstoffbombe. Das war 1953, Ligon 15 Jahre alt. Und nach der Beteiligung an einer Serie von bewaffneten Raubüberfällen, bei denen zwei Menschen ums Leben kamen, wegen Mord verurteilt worden − lebenslänglich. Das bedeutete in den 50er-Jahren: keine Chance auf Begnadigung!
Februar 2021: Joseph Ligon ist mittlerweile 83 Jahre alt und ein alter Mann. Seine Haare sind grau, aber er ist ein freier Mann. Nach 68 Jahren Knast! Er läuft durch die Strassen Philadelphias im US-Bundesstaat Pennsylvania. Es ist sein erster Spaziergang in Freiheit. «Nichts übertrifft das Gefühl der wiedererlangten Freiheit. Ich habe lange von diesem Tag geträumt. Es fühlt sich überwältigend an. Ich erlebe das fast wie ein Kind. Alles ist so neu für mich», erzählte er in der «Bild am Sonntag».Fast 70 Jahre im Gefängnis – ein Teenager, als er reinkam, nun ein Greis. Der Knast hat dem Mann, der in bitterarmen Verhältnissen im US-Bundesstaat Alabama aufwuchs, nach der vierten Klasse die Schule verliess und dann auf die schiefe Bahn geriet, fast das gesamte Leben genommen.

Wie verlief sein Leben im Gefängnis? Joseph lernte richtig lesen und schreiben, arbeitete in seinem Zellenblock als «Hauswart» − Stundenlohn: 43 Cent. Für Kabelfernsehen in der Zelle musste Joseph extra zahlen. So konnte er die Veränderungen der Gesellschaft − Mondlandung, Massenmotorisierung, Internet, Smartphones − zumindest am TV-Bildschirm verfolgen.

Eine Änderung im US-Strafrecht sorgte schliesslich dafür, dass Ligon doch noch aus dem Gefängnis kam: 2012 stufte der Oberste Gerichtshof lebenslange Haftstrafen für Jugendliche als «unmenschlich» und damit verfassungswidrig ein. Doch der US-Staat Pennsylvania, in dessen Gefängnis Ligon einsass, weigerte sich anfänglich, dies anzuerkennen. Erst 2017 war der Bundesstaat bereit, Ligon freizulassen − seine Haftstrafe wäre in eine lebenslange Bewährungsstrafe umgewandelt worden. Ligon lehnte ab! «Ich wollte richtig frei sein. Ohne dass ich mich dauernd beim Bewährungshelfer melden muss oder die Stadt nicht verlassen darf.»

Und so musste Ligons Anwalt Bradley Bridge vier Jahre kämpfen, bis Ligon das Gefängnis als komplett freier Mann verlassen durfte. Jetzt hat er nur ein paar hundert Dollar in der Tasche. Eine Entschädigung für die Zeit in Haft bekommt er nicht. Er wird von einer staatlichen Mindestrente leben müssen. Von der Familie lebt nur noch seine Schwester (80). Die Hilfsorganisation «Philadelphia’s Youth Sentencing & Reentry Project» kümmert sich um den Ex-Häftling.

Verspürt Joseph Verbitterung? Er schüttelt den Kopf: «Nein. Ich habe noch viel Zeit vor mir. Ich will noch viele Dinge sehen. So wie einen normalen Sonnenaufgang. Das ist aufregend.»