«Die Trauer bleibt – doch ich lernte, wieder zu lachen»

Annettes Sohn nahm sich das Leben und hinterliess keinen Abschiedsbrief. Sie schaffte es jedoch aus dem Tief – mit ihrer eigenen Methode.

Ein Kind gehen zu lassen, weil es vielleicht unheilbar krank ist, zerreisst Eltern das Herz. Aber wie muss es sich anfühlen, wenn der Sohn oder die Tochter freiwillig aus dem Leben scheidet? Wenn zu der unermesslichen Trauer die quälenden Fragen und Vorwürfe kommen: Hätte ich es verhindern können? Warum habe ich nicht gesehen, dass etwas nicht stimmt? Was habe ich falsch gemacht?

Gibt dieser düstere Gedankenkreisel einen Menschen je wieder frei? «Ja», sagt Annette Meissner (52) aus Essen (D). «Es war ein langer, schwerer Weg. Aber ich habe es geschafft.»

19 Jahre alt war ihr Sohn Enrico damals, vor knapp neun Jahren, als «es» geschah. «Es war ein schöner Sommertag. Enrico, mein zweiter Sohn, war seit ein paar Tagen bei einem Freund – glaubte ich. Wir hatten zuvor einen kleinen Streit gehabt. Als er danach für eine Weile zu seinem Kumpel wollte, war das nichts Besonderes, das hatte er schon einmal gemacht.» Annette wusste, dass er nur Dampf ablassen musste und dann wieder nach Hause kommen würde.

Doch dieses Mal kam Enrico nicht zurück. Dieses Mal kam die grausame Nachricht: «Enrico ist tot.»

Der Teenager hatte sich am Wasserturm erhängt. Die Mutter fiel in eine «Schockstarre», erzählt sie. «Ich habe Tage und Nächte geweint.» Und die quälende Frage nach dem Warum bestimmte von nun an jede Minute, jede Stunde ihres Lebens. Enrico hatte keinen Abschiedsbrief hinterlassen.

Wochenlang ging Annette nicht mehr vor die Tür, igelte sich ein. «Dann beschloss ich, wegzuziehen. Für mich war das eine gute Entscheidung. Ich musste gehen, um zu heilen, um weiterleben zu können.»

Und sie begann ihre ganz eigene Form der Trauerbewältigung: «Ich fing an, Briefe an Enrico zu schreiben und alle meine Gedanken zu Papier zu bringen.» Daraus ist ein Buch entstanden. «Zurückgelassen durch ­Suizid» dokumentiert den Weg durch die Trauer und deren schmerzhafte Verarbeitung. «Durch das Schreiben fand ich mich wieder. Zwar verändert, dennoch ich selbst.»

Heute kann sie alte Fotos anschauen, Karten lesen, Geschenke in die Hand nehmen und bei der Erinnerung an Enrico wieder lächeln. «Der Tod meines Sohnes veränderte meine Wahrnehmung und mein Empfinden. Die Prioritäten, die ich in meinem Leben setze, sind nun ganz andere, als die, die ich vor dem Tod meines Sohnes gesetzt hatte. Ich lebe nun bewusster, ausgeglichener und intensiver.»

Und Annette hat sich etwas zur Aufgabe gemacht: «Ich möchte anderen Hinterbliebenen Mut machen, wieder am Leben teilzuhaben. Wir müssen das Thema Suizid enttabuisieren.» Sie arbeitet heute als Trauerbegleiterin und gibt Seminare für Betroffene. Hilfe gibt es auch auf ihrer Webseite: www.trauerbegleitung-mit-herz.de