Die Retterin auf der Todesbrücke
Eine junge Studentin wurde von einer Unbekannten vom Suizid abgehalten. Das brachte sie auf eine Idee, die Dutzende Menschenleben rettete.
Paige Hunter wird den Augenblick nie vergessen, als sie an einem kalten Januarabend von der sogenannten Todesbrücke hinab in die Tiefe schaute und dachte: «Gleich ist es vorbei.» Sie machte Anstalten, über die Brüstung zu klettern. Da hörte sie eine Stimme: «Junge Frau, tue es nicht! Dein Leben ist viel mehr wert, als das, was du vorhast.» «Diese Worte retteten mich», erklärt die 21-jährige Studentin heute. «Sie kamen von einer Frau, die sich genähert hatte, ohne dass ich es bemerkte.»
Paige war als junges Mädchen nachts auf dem Heimweg überfallen und sexuell missbraucht worden. Seitdem wurde sie von Albträumen und Depressionen verfolgt. Schliesslich war sie nach dem Scheitern einer Beziehung am Ende aller Hoffnungen angelangt. «Ich dachte, mein Leben sei nutzlos. Ich fühlte mich als der einsamste Mensch der Welt.» In ihrer Verzweiflung fiel ihr die berüchtigte Wearmouth Bridge in ihrer Heimatstadt Sunderland (England) ein. Die Einheimischen nennen sie Todesbrücke, weil sich immer wieder Lebensmüde von ihr in den Fluss Wear stürzen.
Nachdem Paige die Frau gehört hatte, wandte sie sich vom Geländer ab und blieb mit hängendem Kopf stehen. «Schliesslich schlich ich nach Hause. Ich schämte mich. Aber meine Scham hatte auch eine gute Seite», erinnert sie sich. Es ging ihr durch den Kopf: «Wenn die Worte der Frau mich von einer Riesendummheit abhielten, könnten sie das nicht auch für andere Menschen tun, die in seelischer Not Schluss machen wollen?»
Am nächsten Tag schrieb die Studentin aufrüttelnde Worte auf mehrere bunte Zettel, trug sie zur Brücke und heftete sie an verschiedene Stellen. Inzwischen sind drei Jahre vergangen, und Paige hat nicht aufgehört, Aufrufe an die Brücke zu kleben. Sie würde der Frau, die sie ihrer tödlichen Absicht entriss, gerne danken, weiss aber nicht, wer sie ist und wo sie lebt.
Die Polizei von Sunderland, die sonst streng auf die Sauberkeit der Stadt achtet, lässt die Mitteilungen hängen. Sie hätten Dutzende von Menschenleben gerettet, die Zahl der Opfer der Brücke sei dank Paiges Aktion stark zurückgegangen. In Anerkennung ihres Einsatzes hat die Stadt der jungen Frau einen Ehrentitel verliehen. Paige: «Ich tue das nicht für eine Auszeichnung, sondern weil ich Menschen liebe.»
Auf ihren Plakaten steht: «Gib nicht auf. Nicht jetzt, nicht morgen. Niemals! Stop! Atme durch. Überlege. Selbst wenn dein Leben schwierig geworden ist − es zählt.» Auf anderen Blättern veröffentlicht sie die Telefonnummern von Seelsorge-Hotlines. «Durchschnittlich gehe ich alle zwei Wochen mit neuen Mahnungen zur Brücke und sorge dafür, dass die alten lesbar geblieben sind.» Für sie sei das Beschreiben der Zettel und ihr Erfolg mit ihnen eine Therapie. «Anderen Menschen zur Seite zu stehen, gibt meinem Leben einen Sinn.»
Immer wieder treffen bei ihr und auf ihrer Webseite Dankesbekundungen von Geretteten ein. Der Stadtrat Dominic McDonough hat sich dafür eingesetzt, dass die bunten Zettel laminiert werden und ständig vor Ort bleiben. «Sie sind nun ein Teil der Brücke.»