«Die Grausamkeiten werden mich bis an mein Lebensende verfolgen»

Den Holocaust überlebte Fishel ­Rabinowicz, der in der Schweiz wohnt, wie durch ein Wunder. Bis heute aber quälen den ­Künstler die Dämonen von damals. Das verarbeitet der 97-Jährige in seinen ­Bildern, die an die begangenen Gräueltaten der Nazis erinnern.

Los, beweg’ dich, Rotkopf», herrscht der SS-Mann den Häftling an, «der da wird wie alle anderen, die nicht mehr weitergehen können, auf einen Lastwagen verladen.» Fishel Rabinowicz, über seinen Schulfreund und Leidensgefährten gebeugt, der total entkräftet am Wegrand sitzt, muss schweren Herzens weiter. Kurz darauf fällt ein Schuss.

Fishel Rabinowicz ist einer von über 1200 Juden, die auf einen Todesmarsch geschickt wurden. Im Arbeitslager Kittlitztreben, in dem 2000 Häftlinge zusammen­gepfercht waren, hört man bereits den Geschützdonner der heran­rückenden Russen. Darum wird das Lager am 9. Februar 1945 evakuiert. 800 der Schwächsten werden zurückgelassen. «Von den 1220 Menschen, die auf den 325 Kilometer langen Marsch westwärts ins KZ Buchenwald getrieben wurden, kamen nur 746 an», erinnert sich der 97-Jährige. «Die anderen 474 starben an Erschöpfung oder wurden erschossen.» Am 4. April kamen die Überleben­den im KZ an, eine Woche bevor sie von den amerikanischen Truppen befreit wurden.

Fishel Rabinowicz wurde 1924 im polnischen Sosnowiec, nahe der deutschen Grenze, geboren. Zusammen mit neun Geschwistern verbrachte er eine glückliche Kindheit – bis sie kamen. Am 1. September 1939 überfielen die deutschen Truppen Polen und lösten damit den Zweiten Weltkrieg aus.

Einige begüterte Familien aus Sosnowiec konnten rechtzeitig ins Ausland fliehen. Die Zurückgebliebenen wurden in ein Ghetto gesteckt. Im Sommer 1943 hoben es die Deutschen auf und deportierten alle Juden. «Meine Mutter Sara kam mit sechs meiner Geschwister Mitte August 1943 nach Auschwitz. Sie sind nie mehr zurückgekom­men. Ein jüngerer Bruder von mir starb im KZ Faulbrück, meinen Vater Israel Josef erschossen die Nazis kurz vor Kriegsende am 27. März 1945 im KZ Flossenbürg.»

Er selbst wurde bereits am 26. Mai 1941 während einer Razzia von den Deutschen verhaftet und in ein Zwangsarbeitslager gesteckt. Der Mensch Fishel Rabinowicz existiert von da an nicht mehr. Er wird Nummer 19037. «Damals war ich knapp 16 Jahre alt. Ein Jahr lang musste ich an der Reichsautobahn arbeiten, dann weitere Jahre unter anderem Eisenbahnschienen verlegen. Ich hatte das Glück, klein zu sein, darum wiesen mir die Wachhabenden nicht immer die schwersten Arbeiten zu. Meiner feuerroten Haare wegen nannten sie mich ‹Rotkopf›.»

Völlig entkräftet trafen die Überlebenden des Marsches nach 55 Tagen im KZ Buchenwald ein. Sie waren dem Tode nahe, als die Amerikaner am 11. April 1945 das Lager befreiten. «Wir bekamen zu essen und wurden medizinisch betreut. Ich brachte nur noch 28,5 Kilo auf die Waage.» Wie war ihm, als er die ersten US-GI’s sah? «Daran kann ich mich kaum erinnern. Wir waren zu erschöpft und abgestumpft vom täglichen Kampf ums Überleben.»

Nach der Befreiung wurde er zwei Jahre lang in deutschen Spitälern und Sanatorien gesund gepflegt. 1947 weilte er für weitere zwei Jahre in einem Sanatorium in Davos. Es gefiel ihm in der Schweiz – und er beschloss, zu bleiben. Sein künstlerisches Talent bewog ihn, 1949 an der Kunstgewerbeschule Zürich Grafik zu studieren. Nach dem Abschluss heiratete er seine Frau Henny Better und wurde Vater eines Sohnes. Die Familie liess sich in Locarno nieder, und er arbeitete als Chefdekorateur in einem grossen Kaufhaus.

Er habe zehn Jahre seiner Jugend verloren. «In Zwangsarbeitslagern und im KZ. Danach brauchte ich noch vier Jahre, um wieder gesund zu werden. Physisch geht es mir gut, aber psychisch werden mich die erlebten Grausamkeiten und Strapazen bis ans Ende meines Lebens verfolgen.» Von den 35 Familienmitgliedern über­lebten nur vier: er, zwei Brüder und ein Cousin.

1989, nach seiner Pensionierung, fand Fishel Rabinowicz endlich Zeit, sich der Kunst zu widmen. Seine Bilder fanden international Beachtung. «Sie erzählen meine Geschichte und helfen mir, mit meinen Traumata einigermassen umzugehen. Mein Werk soll dazu beitragen, dass die Gräueltaten von damals nicht vergessen werden.»

Bis vor kurzem hat er im Tessin an vielen Schulen über die damalige Zeit erzählt. Hat die Menschheit aus dem Schrecklichen von damals gelernt? «Aufgrund meiner Erfahrungen bezweifle ich das», meint Rabinowicz nachdenklich und zitiert den 1987 verstorbenen Holocaustüberlebenden Primo Levi: «Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen.»