«Die Flut hat meine Träume mitgerissen»

Der Junge hat seine Schule, seinen Sportplatz und sein Spielzeug ­verloren. Sein Vater wäre bei der Tragödie fast ertrunken.

Der Bautrockner steht im verlassenen Haus und läuft seit Stunden. Lionel (10) hat sich auf das Gerät gehockt. Der Grundschüler erinnert sich an die vielen schönen Stunden, die er in seinem Elternhaus verbracht hat: Geburtstage haben sie gefeiert, Weihnachten, an Spielnachmit­tagen kamen Freunde. Es war immer etwas los!

Am Abend des 14. Juli 2021 kam die Flut ins deutsche Ahrgebiet, riss Häuser und Menschen mit, zerstörte Strassen und Schulen. ­Lionels Heimatort Altenburg (D) wurde besonders hart getroffen. Rund 90 Prozent der Häuser hier sind unbewohnbar, mehrere mussten abgerissen werden, weitere werden folgen. Auch Lionels Schule muss komplett saniert werden. Der Fussballplatz ist nicht mehr bespielbar, viele Spielplätze ebenso. Der Viertklässler sagte traurig zur «Bild am Sonntag»: «Die Flut hat meine Träume zerstört. Ich wollte mich auf meiner alten Grundschule fürs Gymnasium empfehlen und nach der Coronapause endlich wieder Fussball im Verein spielen.»

Die Stunden vor der Katastrophe waren unbeschwert. Der drittletzte Schultag vor den Sommerferien − ein Wandertag. Die Lehrerin hatte bereits an die Tafel geschrieben: «Bitte denkt an Unterschriften der Eltern.» Als Lionel mit seinem Klassenkameraden Mylo (9) durch die verlassene Schule läuft und ins Klassenzimmer geht, steht der Hinweis immer noch an der Tafel. Die Zeugnisse wurden nie verteilt − die Flut hat sie mitgerissen. Lionel und seine Klassenkameraden gehen derzeit in eine Containerschule im Nachbarort.

Doch für den Jungen und seine Familie hätte es schlimmer kommen können. «Das Wasser stieg immer höher. Es war richtig schlimm», berichtet der Schüler über die Flutnacht. «Meine Schwestern und ich hatten solche Angst! Wir wussten nicht, was wir machen sollen. Da hat mein Papa uns gepackt und ganz nach oben unters Dach gebracht. Dabei wäre er fast ertrunken.» Acht Stunden verbrachte Lionel mit seinem Vater Genti (43), Mutter Mariola (38) und seinen Schwestern Emeli (1) und Julia (7) in der Flutnacht auf dem Dachboden des Hauses. Immer in der Angst, das Wasser könnte noch höher steigen.

Ein Kampf der Nerven – und Erlebnisse, die die Kinder nicht so leicht vergessen können. «Ab und zu werde ich nachts wach, wenn vielleicht ein Fenster vom Wind zuknallt», erzählt Lionel. «Dann meine ich, die Flut kommt wieder.» Um sich sicher zu fühlen, krabbelt er dann ins Elternbett und schläft am Fussende.

Bei den Wünschen ist der Fan des FC Bayern München sehr entschlossen: «Ich möchte einfach nur, dass alles wieder so wird wie früher», meint er. «Jeder Mitschüler sollte wieder in sein Haus und seine richtige Schule können. Erst Corona, dann Flut. Wir Kinder haben genug gelitten. Und ein Zeugnis vom letzten Schuljahr hätte ich auch gern.»