«Meine Töchter helfen mir, nicht zu verzweifeln»

Beim Attentat in Nizza hat der Westschweizer Sylvain Solioz Frau und Kind verloren. Erstmals erzählt er, wie es ihm rund drei Monate danach geht.

Wieso musste der Lastwagen Mami treffen?» Jedes Mal, wenn die kleine Djulia (4) ihm diese Frage stellt, bekommt Vater Sylvain Solioz (34) aus Yverdon VD einen Stich ins Herz. Wie soll er seiner Tochter antworten können, wenn er selber noch nicht genau realisiert und verarbeitet hat, was am 14. Juli 2016 beim Attentat in Nizza passiert ist? Er musste mitansehen, wie seine Frau Cristina (†31) und Töchterchen Kayla (†6) von einem Amokfahrer mit einem Lastwagen überrollt wurden. 86 Menschen kamen bei dem Angriff ums Leben.

Nun lebt Sylvain allein mit seinen anderen Töchtern Djulia und Kiméa (10 Monate). «Sie helfen mir, nicht zu verzweifeln. Ich weiss, dass ich für sie stark sein muss», sagte er in einem Interview mit der Zeitschrift «L’illustré». Mit den beiden ist er in eine kleinere Wohnung gezogen. Sylvain möchte so schnell wie möglich ein «normales» Leben führen und trauern können. Doch ist das überhaupt möglich? Die Erinnerungen an jenen schrecklichen Sommerabend  haben sich für immer in sein Hirn gebrannt.

Rückblick: Das Ehepaar wollte seinen Kindern endlich einmal schöne Ferien gönnen und schnallte deshalb den Gürtel enger, da das Geld knapp war. Kein Wunder: Cristina verdiente als Coiffeuse wenig, Sylvain kann aus gesundheitlichen Gründen im Moment nicht arbeiten. «Ich wollte gar nicht nach Nizza, weil ich es mühsam fand, mit einem Baby eine Stadt zu besuchen.» Ihm wäre Spanien lieber gewesen, vor allem die Gegend um Alicante, wo es weite Sandstrände gibt. «Aber Cristina liess sich nicht umstimmen. So sind wir halt nach Nizza gefahren.»

In Frankreich war Nationalfeiertag. Nach dem Abendessen spazierte die Familie dem Meer entlang in die Richtung, wo das Feuerwerk gezündet werden sollte. Plötzlich, um 22.45 Uhr, gab es hinter Sylvain einen furchtbaren Knall. «Erst habe ich gedacht, es sei ein Verkehrsunfall», erzählte er der «L’illustré». «Ich drehte mich um und sah den weissen Lastwagen, der im Zickzack fuhr und auf uns zuraste. Die Familie sass in der Falle, konnte vor dem Fahrzeug nicht mehr fliehen. Nur eine gefühlte Sekunde später lag seine Tochter Kayla bewusstlos in einer Blutlache neben ihm, seine Frau daneben. Beide waren von dem 19 Tonnen schweren Gefährt erdrückt worden. Die leicht verletzte Djulia suchte nach dem Kinderwagen mit Kiméa drin. Sylvain: «Ich nahm die Kleine in die Arme, weil sie auf die Strasse gefallen war, doch glücklicherweise unverletzt blieb.» Cristina wurde von den Sanitätern wiederbelebt, kam kurz zu sich, starb dann jedoch. Danach wurden Kayla und Djulia im Krankenwagen weggebracht. «Ich durfte nicht einmal mitfahren.» Es war das letzte Mal, dass er Kayla lebend gesehen hatte. Sie verstarb im Spital.

«Es sah aus wie auf einem Kriegsgelände», erinnert sich Sylvain. Noch immer hielt er Kiméa im Arm und ging die drei Kilometer zum Spital wie in Trance. Gegen ein Uhr morgens kam er dort an. Er wartete in einem Saal und regt sich noch heute auf: «Es waren auch Schweizer Ermittler da. Sie fragten mich doch tatsächlich, ob ich Informationen über Terrorzellen in der Schweiz habe. So als ob ich irgendetwas mit dieser Tat zu tun gehabt hätte.» Am Vorabend der Beerdigung seiner Frau und seiner Tochter wurde er in die Schweiz zurückgeflogen.

Und heute? Sylvain hat einige Sachen von Cristina behalten, damit das Baby durch den Geruch seiner toten Mutter an sie erinnert wird. Den Rest der Kleider hat er ihren brasilianischen Verwandten geschickt. «Man hat mir mein Glück gestohlen», seufzt er. Hass auf den Täter verspüre er nicht: «Das würde niemandem etwas nützen.»