«Als Mobbing-Opfer ging ich durch die Hölle»

Als Kind wurde Torsten von seinen Mitschülern fertiggemacht, was seine Gesundheit ruinierte. Er erzählt, wie er es nach langer Zeit schaffte, heute mutig und selbstbewusst zu sein.

Wenn Torsten Jäger (39) heute an seiner ehemaligen Schule vorbeikommt, geht er besonders aufrecht. Er will auch äusserlich zeigen, was er innerlich erreicht hat: Er ist kein Opfer mehr!Die schlimmen Erinnerungen an seine Schulzeit sind natürlich nicht weg, das geht nicht. Aber sie sind verarbeitet. «Ich habe gelernt, meine Erfahrungen richtig einzuordnen. Das war wichtig. Nur deshalb tut es heute nicht mehr weh.» Torsten ist als Kind durch die Mobbing-Hölle gegangen.Schon in der Grundschule machen seine Mitschüler ihn vor den anderen Kindern lächerlich, beleidigen und schubsen ihn, schüchtern ihn ein. Und sie grenzen ihn aus. Wenn andere Fussball spielen, darf er nur zusehen. «Ich war der Doofe, der Spasti, die Heulsuse», erinnert sich Torsten.

Die Liste der Beschimpfungen ist lang. Aber man verletzt ihn nicht nur mit Worten, sondern klebt ihm auch Kaugummi in die Haare, versteckt seine Schulsachen oder beschmiert seinen Tisch. «Ich habe verpasst, mich rechtzeitig zu wehren und bin ganz schnell in die Rolle des Dauer-Opfers gerutscht, war auch später in der Hauptschule für alle der Fussabtreter, an dem sie sich wahllos abreagierten. Bei mir passte es wirklich: einmal Opfer, immer Opfer. Vor mir hatte niemand mehr Respekt.»

Zum Glück hat er ein inniges Verhältnis zu seinen Eltern und erzählt ihnen immer sofort, was er durchmachen muss. Sie wollen helfen – und erreichen das Gegenteil. «Meine Mutter war ständig in der Schule, hat mit den Lehrern, den Schülern und auch den Eltern einiger Schüler gesprochen. Aber geholfen hat es nicht.»

Nach einiger Zeit macht seine Psyche all das nicht mehr mit. Er leidet an den typischen Angst-Reaktionen: Magen-Darm-Probleme, Atemnot, Schwindel. Oft ist die Angst so gross, dass er sich nicht überwinden kann, zur Schule zu gehen. Durch die vielen Fehltage verschlechtern sich seine Noten, damit liefert er neue Angriffsflächen. Die Lehrer raten zu einer Therapie. Aber Torsten will das absolut nicht. «Ich wusste, dass ich dann als verrückt abgestempelt würde», erklärt er.

Es gibt nur eine Lösung: Er muss durchhalten – bis zum Schulende. Und schafft das. Wie, das kann sich Torsten heute kaum mehr erklären. «Ich habe mich innerlich weggeschaltet und funktioniert. Es war schlimm.» Doch mit dem Abschlusszeugnis in der Tasche entlädt sich der gewaltige Druck in einer handfesten Angststörung. «Ich hatte vor jedem und allem Angst. Angst, einen ehemaligen Mitschüler zu treffen, Angst vor Fremden, Angst vor unerwarteten Situationen. Sowie ich das Haus verliess, bekam ich schon nach wenigen Schritten keine Luft mehr, habe richtig hyperventiliert und glaubte, sterben zu müssen.»

Damals beginnt er eine Therapie. Fünf Jahre lang kann er sich nicht um eine Ausbildung kümmern, sondern nur um seine Gesundheit. «Ich bin in klitzekleinen Schritten zurück ins Leben gekommen», sagt Torsten. Der Therapeut ermutigt ihn, langsam aus dem selbst gewählten Schneckenhaus herauszugehen und sich auf unbekannte Situationen einzulassen. «Es begann damit, allein zum Bäcker zu gehen. Das war eine richtige Hürde, die ich nehmen musste.» Aber er schafft es, traut sich immer mehr zu, erlebt zunehmend Situationen als nicht bedrohlich.

Das Erlebte soll er in Tagesprotokollen aufschreiben. «So kam ich damals zum Schreiben. Es machte mir Spass, mich ganz allein für mich mit Dingen auseinanderzusetzen.» Und die Angst wird immer schwächer, dafür das Selbstbewusstsein grösser. Torsten traut sich immer mehr zu, besucht einen Computerkurs, schafft erst den Fahrausweis, dann den Realschulabschluss, schliesslich eine Ausbildung zum Bürokaufmann. Die Wende kommt schliesslich durch den Arbeitsplatz bei einem Inkasso-Unternehmen. Statt Hass und Ausgrenzung erlebt er hier Offenheit und Freundschaft. Das neue Leben verleiht ihm Flügel. Er verarbeitet seine Erfahrungen zu einem Buch, will damit anderen Mobbing-Opfern Mut machen. Und er entwickelt immer vielfältigere Interessen, engagiert sich für den Naturschutz, schreibt einen Blog, mittlerweile schon zwei Krimis.

Heute ist nichts mehr, wie es einmal war. Wenn er eine Lesung hat, liest er charmant und selbstsicher aus seinem Buch. «Klar denke ich daran, wie es früher war, als ich an der Tafel stand und mich alle auslachten. Heute lacht niemand mehr, im Gegenteil. Man hört mir zu. Ich bin stolz darauf, dass ich das geschafft habe.»