Das Versprechen an die tote Tochter

Ein Antibiotikum machte Ann-­Cathrin Thel erst zum Pflegefall. Dann verlor die junge Frau den Lebenswillen. Sie ging in die Schweiz und nahm Sterbe­hilfe in Anspruch. Vor ihrem Tod bat sie ihre ­Eltern, andere vor dem Medikament zu warnen.

Von Marta Ways

Es ist noch nicht einmal vier Jahre her, da schien das Leben von Ann-Cathrin Thel († 37) perfekt. Im Sommer 2018 arbeitet die Wiesbadenerin als Projektmanagerin in einer Digital-Agentur, sie hat gerade eine Marathon-Laufgruppe gegründet und lebt in einer glücklichen Beziehung. Dann wird sie von einer Kriebelmücke gestochen.

Sie entwickelt eine Blutvergiftung und erhält ein Antibiotikum. Bald darauf treten Sehnenprobleme und Muskelschmerzen auf, sie muss ihr Lauftraining vor-übergehend aussetzen. Anderthalb Jahre später, im Winter 2019: eine Blasenentzündung. Eigentlich keine grosse Sache. Erneut wird ihr ein Antibiotikum verschrieben. Wie bei der Behandlung der Blutvergiftung ein Mittel aus der Gruppe der sogenannten Fluorchinolone. Mit der Einnahme beginnt das Unheil – der Weg von der lebenslustigen, sportlichen Frau zum Pflegefall.

Ann-Cathrins Körper baut dramatisch und unaufhörlich ab. Vom Herbst 2020 an kann sie nicht mehr arbeiten, nicht mehr allein ihren Alltag bewältigen. Ihr Freund verlässt sie, sie zieht zurück zu ihren Eltern, die sie pflegen, ihr beim Anziehen und Zähneputzen helfen müssen.

Im Sommer 2021 konnte die «Bild am Sonntag» mehrmals mit Ann-Cathrin sprechen. Es ist der letzte Sommer ihres Lebens. «Es gibt keine Minute, in der ich schmerzfrei bin. Es fühlt sich an, als würde man Säure über meinen Körper schütten. Ich könnte vor Schmerzen nur noch schreien», berichtet sie. «Mein Körper zersetzt sich selbst.»

Zu diesem Zeitpunkt verlässt die Deutsche ihr Bett kaum noch. Zu gross sind ihre Schmerzen. Das Problem: Gegen den vom Antibiotikum ausgelösten Verfall gibt es keine nachweisbar heilende Therapie. «Ich habe alles ausprobiert – Medikamente, Ernährungsumstellung, Kälte- und Sauerstofftherapie, Infusionen sowie Eigenbluttherapie. Nichts hilft!», erzählt sie. Mindestens 15 000 Euro haben die Behandlungsversuche da schon gekostet. «Ich hoffe einfach gerade, dass ich morgens nicht mehr aufwache.»

Ann-Cathrin verliert ihren Lebenswillen. Mit 37 Jahren entscheidet sie sich, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Nur ist sie selbst schon zu schwach. Über Monate bearbeitet sie ihre Eltern, mit ihr in die Schweiz zu fahren, um dort Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Familie Thel steht vor einer schrecklichen Entscheidung.

Am 28. September 2021 stirbt Ann–Cathrin in der Schweiz. «Ich kann nicht beschreiben, was für ein Weg das ist, die eigene Tochter Richtung Tod zu begleiten», sagt Jürgen Thel, Ann-Cathrins verzweifelter Vater. «Wir werden uns bestimmt den Rest unseres Lebens fragen, ob es nicht irgendwo doch noch eine Therapie für sie gegeben hätte.» Aber Ann-Cathrin konnte und wollte nicht mehr. Für sie war ihr Leben zerstört. «Ich habe bis zuletzt gehofft, dass sie es sich anders überlegt.»

Gabriele und Jürgen Thel gaben ihrer Tochter vor ihrem Tod das Versprechen, dafür zu kämpfen, dass Aufklärungsarbeit geleistet wird. Damit die Nachlässigkeit, mit der solche Medikamente verschrieben werden, endlich aufhört. Was ist das für ein Mittel, dessen Nebenwirkungen der jungen Frau die Lebenskraft und dem Ehepaar Thel die Tochter geraubt haben? Die Antibiotika aus der Gruppe der Fluorchinolone (alle Namen dieser Wirkstoffe enden mit «floxacin») haben eine andere chemische Struktur als die üblichen Antibiotika. Das macht sie als Therapiealternative interessant – als Reserve-Antibiotikum, wenn andere Mittel versagen. Allerdings können Fluorchinolone in seltenen Fällen starke, jahrelange und möglicherweise nicht mehr rückgängig zu machende Nebenwirkungen haben.

Im Frühjahr 2019 verschicken Pharmaunternehmen nach einer Risikoanalyse der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) einen ausführlichen «Rote-Hand-Brief» an Ärzte. Dieser dringende Warnhinweis weist auf schwerwiegende Nebenwirkungen bei zuvor
gesunden Personen hin und rät, Fluorchinolone nur unter besonderen Umständen einzusetzen, und nicht schon bei leichten bis mittelschweren Infektionen.

Aber viel zu oft tun Ärzte das. So schätzt das wissenschaftliche Institut der AOK, dass allein im Jahr 2018 in Deutschland mehr als 40 000 Patientinnen und Patienten von Fluorchinolon-Nebenwirkungen betroffen gewesen sein könnten. Sogar 2020 − also im Jahr nach dem Rote-Hand-Brief − wurden in Deutschland noch 13,3 Mio. Tagesdosen verschrieben.

Dr. Stefan Pieper (61) erlebt fast täglich, dass Ann-Cathrins Schicksal kein Einzelfall ist. Der Allgemeinmediziner aus Konstanz behandelt in seiner Praxis von Fluorchinolon Nebenwirkungen Betroffene. Patienten aus aller Welt kommen zu ihm, über 500 sind es aktuell.

Das Problem: Es gibt nicht die eine, wirkungsvolle Behandlung, weil man noch zu wenig über diese Krankheit weiss. Verursacht wird sie wahrscheinlich durch den fehlgesteuerten Abbau von Kollagen, einem Eiweiss, das für Knochen, Knorpel, Sehnen und Haut unverzichtbar ist. Nervenschmerzen, Kollagenschäden mit Muskelschmerzen, Sehnenrisse, Gelenkbeschwerden, Depressionen und Panikzustände seien die häufigsten Beschwerden, erklärt Pieper. «Da sind so viele junge Menschen dabei, die heute noch topfit und nach der Einnahme kaum mehr arbeitsfähig sind. Und das nur, weil diese Reserveantibiotika fahrlässig verschrieben werden.»