Narrenfreiheit mit 91 – und jetzt sogar Bloggerin

Vor dem ersten Treffen für meine eigene Serie war ich recht nervös. Die rüstige Rentnerin hat mir jedoch meine Premiere mit ihrer offenen Art sehr leicht gemacht.

Blanca Imboden

Elke Baumann empfängt mich in ihrer Zürcher Stadtwohnung. «Gut, dass Sie nicht früher gekommen sind. Meine Morgendepression ist jetzt vorbei», sagt sie und lacht. Als ich frage, ob ich das schreiben dürfe, meint sie: «Ich habe keine Angst, dass ich etwas Falsches sagen könnte. Mit 91 habe ich überhaupt nichts mehr zu verlieren. Ich habe Narrenfreiheit und kann sagen und machen, was ich will.»

Das klingt beneidenswert. Ihr Alter ist dann genau das Stichwort. Obwohl schon über 90, hat sie sich jetzt auf Facebook angemeldet. Wie kam sie dazu? «Mein Sohn hat das für mich eingerichtet, einfach so, zum Spass.» Sie freut sich über jede Freundschaftsanfrage, hat aber inzwischen auch gelernt, Anfragen von zweifelhaften Männern zu blockieren. «Ich bin eigentlich sehr höflich und musste das zuerst lernen.» Elke Baumann postet auf Facebook keine Katzenvideos oder selbst gezüchteten Rosen. Sie schreibt Texte über das Abnehmen, die Notwendigkeit eines Opa-Tags, teilt ihre Gedanken zum Golfsport.

Das findet Anklang, und so hat sie sich jetzt auch noch dazu bewegen lassen, einen eigenen Blog zu eröffnen. «Neulich ist der Fernseher mitten im Krimi ausgestiegen, und der Techniker am Telefon zwang mich, auf den Knien hinter dem Gerät herumzurutschen, um im ganzen Kabelsalat ein bestimmtes Kabel zu finden. Ich schrieb darüber, mit einer Prise Selbstironie, und es gab viele positive Rückmeldungen.» Gerade hat sie einen sommerlichen Text über das Baden in der Stadt Zürich geschrieben, zitierte dabei Zwingli und Goethe. Letzterer soll 1775 oft nackt im See gebadet haben, zum Entsetzen der Zürcher. Selbst schwamm sie dort noch nie. «Das würde ich aber selbstverständlich tun, wenn ich Lust darauf hätte.»

Elke Baumann schreibt nicht nur gerne, sie hat noch eine andere Leidenschaft: Sie liebt Museen, vor allem das Landesmuseum in Zürich, das sie als eine Art zweites Zuhause sieht. «Ich musste mit 63 in meinem Leben noch einmal bei Null anfangen, bewarb mich dort als Aufsicht – ohne zu wissen, was man da genau zu tun hat.» Mit Ehrgeiz und Fleiss arbeitete sie sich ein und lernte viel. So wurde sie bald schon im Büro und beim Empfang eingesetzt. Später hat sie sogar Führungen gemacht und schrieb für die Lokalzeitung über Ausstellungen. «Du kannst das!», habe ihre inzwischen leider verstorbene Freundin Angelika immer wieder zu ihr gesagt. Dies hat Elke Baumann als wichtiges Vermächtnis verinnerlicht.

Elke Baumann ist in Hamburg und Cuxhaven als Apotheker-Tochter aufgewachsen. Sie wusste lange nicht einmal, wo die Schweiz liegt. Ihre Grossmutter hatte allerdings ein Patenkind in der Schweiz, das altersmässig gut zu Elke Baumann passte, darum regte sie einen Briefwechsel an. Die junge Elke fing das eher widerwillig an, verliebte sich aber in die Schrift und das Foto des jungen Mannes. Mit 22 kam sie erstmals in die Schweiz, sie lebt also schon fast 70 Jahre hier. «Er war mein Traummann», erinnert sie sich. Mit diesem hat sie inzwischen einen Sohn, zwei Enkelkinder und drei Urenkel. Ansonsten hatte die Ehe leider kein Happyend, aber darüber mag sie nicht reden. «Mein Humor hat mir im Leben am meisten geholfen. Ich verstecke jedoch manchmal auch meine Gefühle dahinter.» Gerade hat sie einen Teil ihrer Lebensgeschichte für ihre Enkelkinder aufgeschrieben und dafür viel über die Vergangenheit nachgedacht und auch alte Fotos hervorgekramt.

Für ihr Alter ist Elke Baumann geistig erstaunlich rege. Sie unterrichtet sogar einzelne erwachsene Fremdsprachige in deutscher Konversation, hat aber manchmal den Verdacht, dass sie nur zum Reden vorbeikommen. Um auch körperlich fit zu bleiben, spaziert sie jeden Abend, auch bei Wind und Wetter, eine halbe Stunde durch die Stadt.

Am Ende eines langen, unterhaltsamen Gesprächs frage ich Elke Baumann dann doch noch einmal vorsichtig nach ihren Morgendepressionen. Sie winkt ab: «Wahrscheinlich bin ich einfach nur ein Morgenmuffel und will vor meinem ersten Kaffee niemanden sehen.» Da bin ich ja beruhigt. Beim Abschied – ich bin schon im Treppenhaus – ruft sie hinter mir her: «Ich werde in meinem Blog über Sie schreiben.» Worauf ich schlagfertig antworte: «Du kannst das!»