Einzigartige Persönlichkeiten

Wer in den ­Alpen wandern geht, sollte nach Bartgeiern Ausschau ­halten. Die Chancen, diese besonderen Vögel zu ent­decken, stehen gut – denn die Population wächst und wächst!

Als wahre Scheusale wurden sie hingestellt – und Anfang des 19. Jahrhunderts ausgerottet. Damals trugen Bartgeier noch den Namen «Lämmergeier»: Es hiess, sie würden Lämmer, Haustiere und sogar kleine Kinder rauben. «Das war üble Nachrede», sagt Tierarzt Dr. Martin Wehrle, Kurator im Natur- und Tierpark Goldau, wo die Vögel gehalten werden. «Ihr schlechtes Image entstand wohl dadurch, dass sie beim ‹Transport› von toten Tieren beobachtet wurden. Gestorben sind diese aber nicht durch die Bartgeier, denn das sind Aasfresser: Sie ernähren sich von den Knochen verendeter Tiere.» Dass die Vögel damals aus den Alpen verschwunden sind, habe aber nicht nur mit deren Abschuss zu tun, sondern auch damit, dass Gämse, Steinböcke und Co. ebenfalls dezimiert wurden und ihnen so die Nahrung fehlte.

Tempi passati! Wer in den Bergen wandern geht, kann sie heute wieder beobachten – in der Schweiz am besten im Nationalpark, aber auch in der Zentralschweiz oder im Wallis. Insgesamt fliegen 220 bis 250 Bartgeier durch den Alpenraum. Dies dank eines länderübergreifenden Wiederansiedlungsprojekts (www.bartgeier.ch), das vor 30 Jahren seinen Anfang nahm. Jedes Jahr werden an verschiedenen Orten zwei bis drei etwa 100 Tage alte Jungvögel ausgesetzt, diese stammen aus Zoos und Tierparks, wie etwa jenem in Goldau. Dass es seit rund 20 Jahren auch Wildbruten gibt, zeigt den Erfolg des Projekts.

Obwohl der Bestand wächst und wächst, werden die Auswilderungen weitergeführt. «Zum einen brüten die Tiere noch nicht im gesamten Alpenraum, zum anderen wurde die Population auf nicht sehr vielen Gründertieren aufgebaut. Das heisst, die genetische Basis ist eng, wodurch das Risiko für Inzuchtschäden steigt», erklärt Dr. Wehrle. «Durch die Auswilderung neuer Tiere wird die genetische Vielfalt erhöht.» Für die Zukunft erhoffe man sich, dass sich die Population des Alpenraums mit jener der Pyrenäen zusammenschliessen. Auch die Gründung neuer Bestände in früheren Bartgeier-Lebensräumen, etwa auf Korsika oder Sardinien, sei ein Wunsch.

Was fasziniert den Experten eigentlich an den Vögeln? «Bartgeier sind sensibel und sehr individuell. Es sind richtige Persönlichkeiten: Jeder hat seine Eigenarten, reagiert anders auf Situationen. Das trifft man in der Vogelwelt – wage ich zu behaupten – nicht allzu oft an.»