Wovon sie heimlich träumte

Das Leben hat der verstorbenen Musik-Ikone neben dem Erfolg auch grosses Leid beschert, sodass sie beinahe aufgegeben hätte. Am Ende starb sie jedoch als glückliche Frau – die noch einen letzten Wunsch mit sich trug.

Selbst wenn es Zeit ist, zu einem anderen Planeten aufzubrechen, freue ich mich darüber. Weil ich neugierig darauf bin, was kommen wird. Ich sehne den Tod nicht herbei, aber wenn es so weit ist, bedauere ich es nicht.»

Nun ist der Moment gekommen, von dem Tina Turner 2013 so versöhnlich sprach. Ihre Stimme ist verstummt, ihre Seele hat diesen Planeten verlassen. «Die Königin des Rock ’n’ Roll ist im Alter von 83 Jahren nach langer Krankheit in ihrem Zuhause in Küsnacht ZH friedlich gestorben», teilte ihr Management mit. Während die Welt in Trauer aufschreit, ist es in ihrem Château still geworden. 

Zurück bleibt ihr Ehemann Erwin Bach. Der Mann, den sie als  ihr grösstes Geschenk bezeichnete. Der ihr auch nach über 30 gemeinsamen Jahren noch Liebesbriefe schrieb. Der ihr Leben mit einer Nierenspende rettete. Und der an ihrer Seite war, wenn Albträume sie plagten. «Es ist bei ihr wie bei Soldaten, die aus dem Krieg zurückkehren und nicht mehr an diese Zeiten erinnert werden wollen», erzählte er in der TV-Doku «Tina», die vor zwei Jahren erschien. 

Und doch öffnete Tina Turner in den letzten Jahren ihr Herz wie selten zuvor. Sie gab im Dokumentarfilm Einblicke in ihre Seele, schrieb Bücher und autorisierte ein Musical, das ihre bewegende Lebensgeschichte erzählt. Zudem sprach sie in Interviews ausführlich über all die Dinge und Gedanken, die sie bewegten. «Der Film, das Stück – das war es. Das ist ein Abschluss.»

Trotz aller Erfolge zog Tina Turner eine traurige Bilanz: «Ich hatte ein furchtbares Leben. Ich habe einfach nur weitergemacht.» 

«Ma liebte mich nicht»

Anna Mae Bullock, so ihr bürgerlicher Name, wuchs in einem kleinen Ort im US-Staat Tennessee auf. Sie war ein unerwünschtes Kind. Mutter Zelma († 1999) wollte sich eigentlich von ihrem Mann trennen – wurde dann aber schwanger und blieb vorerst. Während sie die ältere Schwester liebevoll behandelte, brachte sie der Jüngeren nur Ablehnung entgegen. «Ich wusste schon als Kleinkind, dass Ma mich nicht liebte. Als sie uns verliess, war ich elf.» Zwei Jahre später liess auch der Vater die beiden Schwestern allein zurück, die Grosseltern nahmen sie schliesslich auf. «Meine Mutter war nicht nett. Als ich ein Star wurde, war sie kurzzeitig glücklich, weil ich ihr ein Haus gekauft habe. Ich habe alles Mögliche für sie getan, sie war meine Mutter. Aber sie mochte mich trotzdem nicht.» Diese Ablehnung habe wohl dazu geführt, dass sie später Liebe an Orten gesucht habe, die nicht gut für sie waren.

«Einer Hölle entflohen»

Sie sprach von Ike Turner († 2007). Mit 17 verlor sie ihr Herz an den Musiker, heiratete ihn 1962. Sie adoptierte seine beiden Söhne, bekam mit ihm zwei weitere. Bei Ike durfte sie singen, aber mit ihm begann auch ihre persönliche Tragödie. Er machte sie zu seinem Besitz, schlug und missbrauchte sie körperlich wie seelisch (siehe S. 8). 1976 verliess sie ihren Mann und stand vor dem Nichts. Ein Suizidversuch misslang – sie sah es als Zeichen, dass es einen Grund gibt, dass sie auf der Welt ist. Um die Kinder zu ernähren, nahm sie jeden erdenklichen Job an. Sie ging putzen, später kamen kleinere Auftritte hinzu. Aufgeben war keine Option. «Ich war trotz allem optimistisch, schliesslich war ich gerade einer Hölle entflohen.»

«Hilfe von innen»

Eine Quelle der Kraft in dieser Zeit war für Tina Turner das Chanten von Mantren – also das tägliche Rezitieren von heiligen Versen aus dem Buddhismus. «Es gab so viele äussere Umstände und Kräfte, die ich nicht ändern oder beherrschen konnte, aber ich hatte eine entscheidende Erkenntnis: Ich konnte die Art und Weise ändern, in der ich auf diese Herausforderungen reagierte. Die wertvollste Hilfe kommt von innen.» Ihr Glück fand sie in Europa. Sie genoss die Freiheit und einige Liebeleien. 1984 nahm sie ihr Comeback-Album «Private Dancer» auf. Mit 45 Jahren startete ihre einzigartige Solokarriere. 1986 lernte sie Erwin Bach kennen – der zur Liebe ihres Lebens wurde (S. 8) «Die schönste Feier meines Lebens war unsere Hochzeit», sagte Tina Turner. «Das schönste Geschenk, das ich je erhielt: Erwin.»

«Keinen Bock mehr»

1995 zog das Paar in die Schweiz – und hier fand Tina Turner ihren Frieden. Inzwischen war sie längst ein Superstar, hatte mit Hits wie «We Don’t Need Another Hero» oder «Simply the Best» Musikgeschichte geschrieben. 2009 beendete sie ihre Karriere. «Ich hatte keinen Bock mehr, zu singen und alle anderen glücklich zu machen.» Jetzt widmete die Sängerin ihre Zeit nur noch Herzensdingen – allen voran ihrem Ehemann. «Ich bin gesegnet. Er ist für mich die beste Gesellschaft, und ich liebe es einfach, mit ihm zu
Hause zu sein, nachdem ich so viele Jahre meines Lebens ‹on the road› verbracht habe. Ich fühle mich gut und geniesse die Ruhe.»

«Glücklicher, als je erträumt»

2013 wurde die Musik-Ikone Schweizerin: Sie schätze die schöne Landschaft, die freundlichen Menschen, das Spiel der Jahreszeiten. Im gleichen Jahr heiratete sie Erwin Bach. «Ich bin glücklicher, als ich es mir jemals erträumt hätte, meine Lebensumstände sind absolut perfekt, mein Seelenzustand ist spirituell und mental ausgesprochen gut», sagte sie damals.

«In Trauer schliesse ich die Augen»

Schicksalsschläge blieben trotzdem nicht aus. Tina Turner hatte mit Krankheiten zu kämpfen (S. 10) und musste den Verlust ihrer Söhne ertragen. 2018 beging Craig († 59) Suizid. «Wir wissen nicht, warum er das getan hat», sagte die Künstlerin danach. «Ich habe mich im Guten von ihm verabschiedet und glaube, er ist glücklich an dem Ort, an dem er jetzt ist.» Ende letzten Jahres starb Ronnie im Alter von 62 Jahren an Darmkrebs. Auf Instagram schrieb sie damals: «Ronnie, du hast die Welt viel zu früh verlassen. In Trauer schliesse ich meine Augen und denke an dich, mein geliebter Sohn.»

«Meine Lebensaufgabe erfüllt»

Die Spiritualität, speziell der Buddhismus, nahm einen grossen Teil des Lebens von Tina Turner ein. Im Buch «Happiness: Mein spiritueller Weg» teilte sie ihre Erkenntnisse. Co-Autorin Regula Curti sagte bei dessen Erscheinung 2020. «Ich bin so froh, dass sie es in ihrem hohen Alter noch geschrieben hat. Der Gedanke, dass sie sterben würde, ohne ihr
Geheimnis preiszugeben, machte mich ganz krank. Die Welt muss erfahren, dass es einen Weg zum Glück gibt, den jeder und jede beschreiten kann.» Tina Turner konnte die Hindernisse ihres Lebens dank dem Chanten und dem Buddhismus überwinden. Sie glaubte daran, dass jeder Mensch die Chance hat, seine eigene Quelle der Freude zu erschliessen. Der letzte Wunsch von Tina Turner, über deren Beisetzung noch nichts bekannt ist, war es, nicht «nur» ihre Musik zu hinterlassen. «Wenn ich mit meiner Geschichte dazu beitragen kann, andere zu motivieren, ihr Potenzial auszuschöpfen, eine klarere Sichtweise auf sich selbst zu finden oder auf irgendeine andere Weise Menschen dabei zu helfen, auch nur ein bisschen glücklicher zu werden, dann habe ich meine Lebensaufgabe erfüllt.»