Und wieder ruft der Berg

Bei der Erstbesteigung des Matterhorns mit einheimischen Bergführern kam es zum Unglück. Zwei Nachkommen zeigen bei den Freilichtspielen Zermatt, was damals geschehen sein könnte.

Von Andrea Butorin 

Ist das Seil gerissen, oder wurde es zerschnitten? Die Erstbesteigung des Matterhorns steht für Draufgängertum, Intrigen und ein Drama: Von der siebenköpfigen, eilig zusammengewürfelten Seilschaft, die den Berg am Nachmittag des 14. Juli 1865 als Erste bestieg, kehrten bloss drei zurück: der Engländer Edward Whymper (1840 – 1911) und die einheimischen Bergführer Peter Taugwalder Vater (1820 – 1888) sowie dessen gleichnamiger Sohn (1843 – 1923).

Vier Männer sind beim Abstieg in den Tod gestürzt. Die Überlebenden wurden des Mordes angeklagt. Sie beteuerten, dass das Seil gerissen sei, doch rasch kursierten Gerüchte, dass jemand von ihnen das Seil zerschnitten habe, um sich selbst zu retten. Die drei Männer wurden freigesprochen, aber den dunklen Schatten der Erstbesteigung wurden sie zu Lebzeiten nicht mehr los.

Kein Wunder, dass diese Geschichte auch die heutige Generation Taugwalder nicht loslässt. Viele der Nachfahren haben sich intensiv damit beschäftigt, Gerichtsakten studiert oder gar selbst ein Buch über die Erstbesteigung geschrieben. «Dieses Seil ist die Nabelschnur unserer Familie», sagt David Taugwalder (32), Ururur-Enkel von Peter Taugwalder Sohn, «denn wäre es intakt geblieben, wären damals wohl alle abgestürzt, und wir sässen heute nicht da.»

Laien und Profis

Einen Sommer lang schlüpft nun David Taugwalder bei der Neuinszenierung von «The Matterhorn Story» der Freilichtspiele Zermatt in die Rolle seines Vorfahren – und Pino Mazzone (62) in jene seines Ururur-Grossvaters, Taugwalder Vater

Vor zehn Jahren ist «The Matterhorn Story» am Riffelberg, mit dem Matterhorn als Kulisse, uraufgeführt worden. Bereits damals verkörperte David Taugwalder, der hauptberuflich als Leiter PR und Kommunikation von Zermatt Tourismus arbeitet, seinen Ururur-Grossvater. Und debütierte als Schauspieler. Sein Vater Joseph spielte damals Taugwalder Senior. «Mit meinem Vater auf der Bühne zu stehen, war ausserordentlich schön. Dass heuer sein Cousin Pino diese Rolle übernimmt und sie damit in der Familie bleibt, freut mich», sagt er. Mazzone wird als Direktor der Primarschule Zermatt bald pensioniert und hat deshalb wieder mehr Zeit für seine Leidenschaft, das Laientheater.

Die Autorin und Regisseurin des Stücks, Livia Anne Richard, hat schon zahlreiche Freilichtspiele inszeniert, primär auf dem Berner Hausberg Gurten. Sie sagt: «Ich arbeite gern mit einem Mix aus Laien und Profi-Schauspielern, weil sie sich gegenseitig enorm befruchten.» Sie habe sofort zugesagt, «The Matterhorn Story» neu zu inszenieren, weil es so wunderbar in die Bergkulisse passe. Sie fasziniere, wie manche Menschen für ihre Leidenschaft, Berge zu erklimmen, jegliche Vernunft ausser Acht lassen: «Heute sind sich viele nicht mehr bewusst, dass Zermatt seine Weltberühmtheit durch eine Katastrophe erlangt hat.» 

Das «Hore», wie man in Zermatt sagt, fasziniert Touristen und Einheimische gleichermassen. Pino Mazzone beobachtet jeweils, wie jede noch so grosse Touristengruppe verstummt, wenn frühmorgens die ersten Sonnenstrahlen den Berg beleuchten. Auch er trägt das Bergsteiger-Gen seiner Vorfahren in sich und stand 1987 auf dem Gipfel des Matterhorns. Und David Taugwalder sagt: «Es mag kitschig klingen, aber der Berg bedeutet Heimat für mich und gibt mir Kraft.» Wenn für ihn der richtige Moment für die Besteigung gekommen sei, werde er es spüren. Im Moment sind Taugwalder und Mazzone ihrem «Hore» fast täglich sehr nah; die Proben sind in vollem Gang. Doch was ist nun mit dem Seil? Ist es tatsächlich gerissen, oder wurde es etwa doch zerschnitten? Pino Mazzone lacht. 2015 habe er im Publikum gesessen und gehört, wie am Ende ein kleiner Junge seinem Vater diese Frage gestellt hat. Dieser antwortete: «Wahrscheinlich wird man es nie endgültig wissen, du musst dir selbst ein Urteil bilden.»