«So viel Kraft schöpfe ich aus meiner Familie»

In einem grossen ZDF-Dreiteiler verkörpert sie eine Mutter aus der DDR, deren gut gehütetes Geheimnis entdeckt wird. Für die Schauspielerin gab es beim Dreh einige persönliche Berührungspunkte, die aufwühlende Erinnerungen weckten.

Anfang November 1989 erlebte Anja Kling fünf Tage, die sich wie «fünf grauenhafte Monate anfühlten». Die ­damals 19-jährige DDR-Bürgerin war mit ihrer Schwester Gerit in einer «spontanen Nacht-und-Nebel-­Aktion» über die Tschechoslowakei nach Westdeutschland geflohen. Seinerzeit war der Staat in grosser Aufruhr. Etwa die Hälfte ihrer Freunde hatte bereits über Ungarn den Schritt in die Freiheit gewagt. «Als dann die DDR für Ungarn keine Visa mehr erteilte und man nur noch in die Tschechoslowakei reisen konnte, waren wir sicher, dass auch diese Grenze sehr bald geschlossen werden würde.»

Aber eines war sie sich damals nicht bewusst: Dass sie nach dieser Flucht ihre Eltern, die im Osten geblieben waren, wohl nie mehr wiedersehen würde. Dabei hatte die Mutter die beiden Töchter zu diesem Schritt gedrängt: «Sie hat sich ein freies, selbst­bestimmtes Leben für uns ersehnt. Sie wollte, dass wir die Welt bereisen können und uns nicht eingesperrt fühlen. Jene, die man am meisten liebt, zum Weggehen zu ermutigen, damit es ihnen besser geht, empfinde ich als Zeichen der allergrössten Liebe.» Doch der Preis war hoch, wie sich Anja Kling erinnert: «Ich hatte mit meinen 19 Jahren vorher einfach nicht umrissen, wie sehr ich unter dieser endgültigen Trennung leiden würde.»

Dass sie diese traumatischen Erfahrungen schildert, hat einen konkreten Anlass. Denn sie spielt eine der tragenden Rollen des ZDF-Drei­teilers «Der Palast» über eine Familie, die in der spannungsreichen Geschichte von BRD und DDR auseinandergerissen wird. In ihrem Fall war die Trennung zum Glück sehr begrenzt, denn fünf Tage nach der Flucht fiel die Mauer: «Ich kann gar nicht beschreiben, wie froh ich war, als wir uns am 10. November 1989 alle wieder in den Armen liegen konnten.»

Zwangsläufig führte sie in der Vorbereitung auf dieses Projekt viele Gespräche mit ihren Eltern: «Schliesslich waren sie 1987/88, also in der Zeit, in der unser Film spielt, etwa so alt wie meine Figur. Das hat mir sehr im Verstehen von Dialogen und Haltungen geholfen.» Sinnigerweise hätte sie selbst damals eine Karriere machen können wie eine der beiden jungen Hauptfiguren – und zwar in der Revue des Unterhaltungstempels Friedrichstadtpalast: «Ich habe in der DDR 1986/87 an der staatlichen Ballettschule Berlin eine dreijährige Ausbildung begonnen. Ich wollte sehr gerne Tänzerin werden, und da ich relativ gross bin, war der Friedrichstadtpalast aus Sicht der Lehrerschaft und der Trainerinnen und Trainer tatsächlich kurzzeitig eine Option für mich.»

Allerdings entschied sie sich am Ende des ersten Studienjahres anders. «Ich wusste, dass die Revue nicht das ist, was ich gerne tanzen wollte. Ich sah mich im Tutu und Spitzenschuhen und nicht im Federkostüm und High Heels. Das mochte ich lediglich als Zuschauerin. Da ich aber für ein grosses klassisches Opernhaus nach einer dreijährigen Ausbildung nicht gut genug hätte werden können, habe ich es vorgezogen, das Tanzen ganz aufzugeben und bin Schauspielerin geworden.»

Die fünf traumatischen Tage im November sollten freilich prägend für ihr Leben bleiben – im positiven Sinne. Zumindest vermutet sie das: «Vielleicht tragen diese Tage dazu bei, dass ich so viel Kraft aus meiner Familie und meinem Zuhause schöpfe. Damals ist mir bewusst geworden, was wir aneinander haben und wie wichtig der familiäre Zusammenhalt für mich ist.» So wohnt sie direkt neben ihren Eltern. Solidarität wird grossgeschrieben.

Zwar gibt es auch in ihrem familiären Kreis eine Trennung, aber die war bei weitem weniger dramatisch als bei ihr im Jahre 1989. «Mein Sohn ist vor zwei Jahren ausgezogen, meine Tochter ist noch da. Und auch wenn es für mich am Anfang ungewohnt und auch ein bisschen traurig war, finde ich es mehr als richtig, dass Kinder, wenn sie gross sind, ihr Nest verlassen und fliegen lernen. Wir haben ein unglaublich tolles Verhältnis zueinander, sehen uns, so oft es geht, und sind stets alle füreinander da.»