Sie hat stets neue Ziele vor Augen

Karte, Kompass und Krimis: Die 23-fache OL-Weltmeisterin sucht immer noch ambitioniert die Posten, wenn sie eine Startnummer trägt. Doch privat verfolgt die Bernerin längst noch weitere neue ­Herausforderungen.

Von Thomas Wälti

Es ist keine Villa, es ist unser Haus, doch wir sind glücklich, und das macht es aus», steht auf dem ­Türschild des Plus-Energie-Hauses in ­Münsingen BE. «Kommen Sie herein!», ­begrüsst Orientierungslauf-Legende ­Simone Niggli-Luder (47) ihre Gäste mit einem herzhaften Lachen. Die licht­durchfluteten Räume des preisgekrönten Ökobaus versprühen skandinavischen Charme: Das Sideboard ist mit einem Wildblumenstrauss aus Lego-Steinen ­dekoriert, daneben sticht ein beschrifteter Leuchtkasten mit einem Festtagsgruss auf Schwedisch hervor.

Auf dem Sideboard stehen ausserdem stumme Zeugen einer phantastischen Karriere: Drei Trophäen erinnern an die Wahl zur Schweizer Sportlerin des Jahres (2003, 2005, 2007). Daneben prangt der Award, der sie 2020 hinter den Ski-Assen Erika Hess (63) und Vreni Schneider (60) zur drittbesten Schweizer Sportlerin des Jahres während der letzten 70 Jahre ausgezeichnet hat. «Auf diese Auszeichnung bin ich besonders stolz», sagt die Hausherrin. Ihr Mann, der frühere OL-Eliteläufer ­Matthias Niggli (52), bittet das GlücksPost-Team in den oberen Stock. «An ­dieser Wand hängen all unsere 23 WM-Goldmedaillen», erzählt der Geograf, der heute als Leiter Sponsoring bei Swiss Orienteering arbeitet, mit gespielt ernster Miene. Dann wartet er ab, schmunzelt, der ­Groschen fällt; seine Frau Simone ist 23-­fache OL-Weltmeisterin.

Fussball statt ­Meerschweinchen

Draussen spielen die 14-jährigen Zwillinge Anja und Lars Fussball. Die ältere Schwester Malin (17) ist nicht zu Hause, sie weilt in der Schule. Als die ­Eltern im ­Garten erscheinen, stellt sich Lars ins Tor und fordert seinen Vater auf, den Ball zu schiessen. «Das Tor bastelten wir aus dem Holzgehege, in dem wir bis vor ein paar Jahren vier Meerschweinchen hielten», sagt ­Matthias Niggli und ergänzt, dass nach der anfänglichen Euphorie über die ­neuen Haustierchen die Kinder rasch ­einmal das Interesse verloren hätten. ­Simone musste sich fortan um die putzigen Nager kümmern.

Fraglos haben Malin, Anja und Lars das OL-Gen von den Eltern ­geerbt. Beim Rundgang durch das Haus fallen zahlreiche Startnummern auf. Während die Zwillinge im skandinavischen Volkssport noch in den Kinderschuhen stecken, gehört ­Malin dem OL-Nachwuchskader Bern/­Solothurn an. «Wir sind fast an ­jedem ­Wochenende an ­einem Wettkampf anzu­treffen», sagt ­Simone Niggli-Luder, die 2013 vom ­Spitzensport zurückgetreten ist. Mit ihrem Ehemann tritt sie öfter in der Staffel und in ihrer Alterskategorie im Einzel an.

Simone Niggli-Luder ist fit wie zu den besten Zeiten. Sie trainiert jeden Tag zwischen 45 Minuten und zwei Stunden – ­Joggen, Velofahren, Trainingseinheiten mit der «ol norska» und Krafttraining. Der Leistungsgedanke sei nicht mehr dominierend, sagt die neunfache Weltcup-­Gesamt-Siegerin, «wenn ich aber im Wald bin, packt mich der Ehrgeiz. Ich will die Posten mit Karte und Kompass nach wie vor auf direktestem Weg ansteuern.» Das Einzige, was ihr aus der Aktivzeit fehle, sei die Genug­tuung, nach einer kompromiss­losen und monatelangen Vorbereitung ein Ziel erreicht zu haben.

Neuer Berufsabschluss

Dennoch feiert Niggli-Luder weiterhin ­viele Erfolge – allen voran als Mutter. «Ich habe das beste Mami der Welt!», schwärmt Lars. «Sie ist immer für mich da und kocht sehr fein. Ich möchte auch gerne so gut Klavier spielen wie sie.» Anja ergänzt: «Mami kann sehr schnell laufen. Sie hilft mir immer beim Lernen und ist sprach­begabt. Ich möchte auch gerne so gut Französisch sprechen wie sie.»

Am 30. August feiern Simone und ­Matthias Niggli-Luder ihren 22. Hochzeitstag. Das Geheimnis der langen Liebe? «Wir haben gemeinsame Interessen, pflegen ­einen respektvollen Umgang miteinander und streuen immer wieder kleine Über­raschungen ein – etwa ein gemeinsames Wochenende», verrät Simone Niggli-­Luder. Ihr nächstes Projekt? «Ich absol­viere gegenwärtig eine Ausbildung zur ­Medizinischen Praxisassistentin. In ein paar Monaten schliesse ich ab.»

2020 erfüllte sich die Familie Niggli-­Luder einen Lebenstraum. Sie wanderte während der Corona-Pandemie für ein Jahr nach Schweden aus. «Dieses Abenteuer hat uns noch mehr zusammengeschweisst. Es war faszinierend zu sehen, wie leicht sich unsere Kinder an die neue Umgebung anpassten, Freundschaften schlossen und Schwedisch lernten», sagt Matthias Niggli. Um die Sprache nicht zu verlernen, liest Simone Niggli-Luder heute gerne schwedische Krimis. Ihren Kindern erzählt Matthias gelegentlich Gute­nachtgeschichten auf Schwedisch.

Begegnung mit einem Elch

Angesprochen auf ihre grössten Gänsehaut-Momente als Spitzensportlerin, denkt Simone Niggli-Luder lange nach. «Mich festzulegen, ist schwierig. Jede ­Medaille hat ihre eigene Geschichte. Aber an der Heim-WM 2003 in Rapperswil-Jona viermal als Weltmeisterin über die Ziel­linie zu laufen, war schon sehr speziell.» Aufgewühlt hat die Biologin ausserdem das Langdistanz-Rennen an der WM 2004, wo sie auf dem Weg zum zweiten Posten in einen Ast lief, eine Linse verlor und schliesslich Vierte wurde. Gab und gibt es im Wald Begegnungen mit wilden Tieren? «Ja, ich sah schon Wildschweine, Rehe und sogar einen Elch. Sie waren neugierig, aber sehr scheu.»

Simone Niggli-Luder ist gerne im Wald, freut sich aber auch wieder auf ihr Zu­hause. Dieses ist zwar keine Villa, aber es ist ihr Haus, und das macht es aus.