«Es ist ungerecht! Auch die Familie muss leiden»

Er verkehrte mit gekrönten Häuptern, mit Staatspräsidenten und Wirtschaftskapitänen. Dann kam der tiefe Fall, und er wurde 2015 vom Fussball-Thron gestürzt. Im Gespräch mit der GlücksPost redet der ehemalige Fifa-Präsident über Freundschaft, Liebe, seine Jugend und wie er um seine Ehre kämpft.

GlücksPost: Es ist noch nicht vorbei. Sie werden immer noch angegriffen – von Medien, Politikern und Funktionären. Jeder andere wäre unter diesem Dauerfeuer zusammengebrochen. Woher nehmen Sie die Kraft, all das durchzustehen?
Sepp Blatter: Aus der Gewissheit, dass diese Anschuldigungen nicht wahr sind. Und die Wahrheit wird ans Licht kommen. Das Ganze war ein sorgfältig geplantes Komplott gegen mich. Das alles wird jetzt aufgearbeitet.

Sie wehren sich gegen Vorwürfe wie Korruption und andere illegale Machenschaften und lassen das nicht auf sich sitzen?
Natürlich nicht. Ich lasse mich nicht unterkriegen, weil ich ein reines Gewissen habe. In meinem ganzen Berufsleben habe ich stets korrekt gehandelt, und alles ist belegt. Darum schaue ich mit Zuversicht in die Zukunft und bin gespannt, wie sich das Ganze weiterentwickelt.

Geht es auch um Ihre Ehre?
Ja klar, und um meinen guten Ruf und meine Rehabilitierung. Die Vorverurteilung durch die Medien ist eine Schande, aber die bringt man gegenwärtig nicht weg. Ich bin nur von einem Sportgericht suspendiert. Kein Zivil- oder Strafgericht hat mich je angeklagt. Interessanterweise wurde in der Begründung meiner Suspendierung alles fallen gelassen, was man mir am Anfang vorgeworfen hat: Die Fifa-Ethikkommission kam zum Urteil, dass es weder Korruption noch illegale Zahlungen oder persönliche Bereicherung gab. Es bleibt nur der Vorwurf, dass ich dem ehemaligen Uefa-Präsidenten Michel Platini zwei Millionen Euro überwiesen habe. Aber dieses Honorar war korrekt, weil Platini für die Fifa gearbeitet hatte.

Waren Sie in Ihrer Funktion als Fifa-Präsident nicht etwas zu naiv?
Ich war sicher zu gutgläubig. Doch ich baue weiterhin auf gegenseitiges Vertrauen, und alles, was ich noch mache, geschieht auf Vertrauensbasis.

Und wenn das geschenkte Vertrauen nicht erwidert wird?
Ja, da kann man dann sagen, der Blatter ist weiterhin naiv. Wenn ich es richtig bedenke, habe ich nie richtig ausgeteilt, nur immer eingesteckt. Ich hätte bei Angriffen auf meine Person vielleicht schneller und härter zurückschlagen müssen.

«Ich kann vergeben, aber nicht vergessen», haben Sie einmal gesagt. Gilt das auch für Ihre ärgsten Feinde?
Ja, ich kann auch ihnen vergeben. Es ist so: Vergeben musst du auch, wenn man dir wehgetan oder dich besiegt hat. Das lernt man ja auch im Sport. Beim Schwingen wischt der Sieger dem Verlierer das Sägemehl vom Rücken, was dieser nicht besonders mag, weil er ja verloren hat. Aber man reicht sich die Hände und damit ist die Sache erledigt. Doch wenn es eine geballte Kraft gibt, die nichts anderes im Sinn hat, als dich kaputt zu machen, kann man jegliche Geste der Versöhnung vergessen.

Trotzdem können Sie vergeben?
Dank meiner Erziehung und meinem Glauben kann ich das. Ich glaube an das Gute. Doch ich kann auch kämpfen. Und das seit meiner Geburt. Ich kam am 10. März 1936 in Visp zur Welt; fast zwei Monate zu früh. Meine Mamma war am Wäscheaufhängen, als ich in diese Welt kommen wollte. Am Nachmittag um 14.30 Uhr war es so weit. Ich war ein Frühchen und wog nur 1 Kilo und 250 Gramm. Man glaubte nicht daran, dass ich überlebe.

Haben Sie keine Rachegefühle denen gegenüber, die versuchen, Sie fertigzumachen?
Nein. Meine Mamma, die eine kluge Frau war, gab mir einst einen alten Walliser Spruch mit auf den Lebensweg: «Wenn du mit jemandem Streit hast und ihr wollt einander wirklich kaputt machen, landet der eine im Grab und der andere im Gefängnis, und keiner hat gewonnen.» Es gibt im Leben wichtigere Dinge, als einem Feind dessen Schandtat um jeden Preis heimzuzahlen.

Was bedeutet Ihnen Freundschaft?
Sie ist für mich sehr wichtig. Aber sie bedeutet nicht nur «cher ami». Freundschaft ist, wenn du jemanden hast, der für dich da ist und du für ihn. In guten wie in schlechten Zeiten. Darum pflege ich heute wenige, aber wahrhafte Freundschaften. Die beste Freundin ist meine Tochter Corinne. Wer in der Fifa-Pyramide ganz oben ist, hat wenige wirkliche Freunde – aber viele Neider, die gerne dessen Platz einnehmen würden. Das habe ich leider zu spät gemerkt.

Eine bittere Erfahrung, dass man viele sogenannte Freunde hat, solange man über Macht, Einfluss und Geld verfügt, von dem diese profitieren können?
Das ist sehr bitter, aber ich trinke ab und zu einen Campari, und der ist auch ziemlich bitter. Scherz beiseite: Mit Bitterkeit im Herzen lebt es sich schlecht, sie schadet. Die Anschuldigungen gegenüber meiner Person verdaue ich im Wissen, dass die Fakten ans Licht kommen werden.

Sie stecken alles einfach so weg?
Natürlich nicht. Am 1. November 2015, an Allerheiligen, besuchte ich gemäss katholischer Tradition zusammen mit meiner Familie das Familiengrab in Visp. Dort hatte ich einen physischen Zusammenbruch. Doch ich spürte, dass der vorübergeht. Sonst hätte ich diesen Tag wohl nicht überlebt. Aber ich wollte weiterleben. In der Notaufnahme im Spital fragte mich die Ärztin, wen sie anrufen und über das Geschehene informieren solle. «Warum?» – «Sie sind sehr schwer krank.» – «Nein», sagte ich, «es war nur ein Schwächeanfall.» Zehn Tage später war ich wieder zu Hause.

Was bedeutet Ihnen Macht?
Macht kommt von machen, schaffen, auch erschaffen. Wenn du etwas Grosses leistest, bist du in einer Machtposition. Der florentinische Staatsphilosoph Niccolò Macchiavelli schrieb: «Es ist nicht der Titel, der zählt, sondern die Macht, die er dir verleiht.» Aber diese Macht bedeutet vor allem Verantwortung und was in diesem Rahmen ethisch vertretbar ist.

Was für eine Beziehung haben Sie zum Geld?
Eine schlechte. Ich bin kein Geldmensch. In meiner ganzen Berufslaufbahn habe ich nie ein höheres Salär gefordert als das angebotene. Mein Vater hat mir eingeschärft: «Nimm nie mehr an, als du wirklich verdienst.» Diesen Rat habe ich ein Leben lang befolgt. Klar, Geld erlaubt einen gewissen Wohlstand. Aber ich lebe nicht auf grossem Fuss, ich brauche keine Jacht, grosse Autos oder ein Luxus-Loft.

Wie war Ihre Kindheit?
Glücklich. Dafür bin ich meinen Eltern ewig dankbar. Meine drei Geschwister und ich wurden jedoch dazu erzogen, die Arbeit nicht zu scheuen. Mit zwölf Jahren war ich schon Hotelboy…

… das war Kinderarbeit!
Ja, das war es. Ich arbeitete viel und habe mir im Alter prompt einen Scheuermann eingefangen. Ich musste sogar Bierfässer aus dem Keller ins Restaurant schleppen, die für einen Zwölfjährigen viel zu schwer waren. Tritt um Tritt, Toc! Toc! Toc!, hievte ich sie die Treppe hoch. Einmal wurde eines davon sofort angezapft. Zisch! Das durchgeschüttelte Bier schoss aus dem Spundloch und duschte die Umstehenden ab. Die Schuld an diesem Malheur gab man natürlich mir, doch innerlich schüttelte es mich vor Lachen. Immerhin musste ich seither die Fässer nicht mehr allein schleppen.

Ihre Mutter war stolz auf Ihre Karriere?
Und wie! Aber sie hat von der Welt des Fussballs nicht viel verstanden. Als ich zum Generalsekretär gewählt wurde, kam eine kleine Delegation aus dem Wallis, darunter meine Mutter. Wir gingen zusammen in mein Büro im alten Fifa-Gebäude. Mamma flüsterte mir zu: «Büeb, was ist, wenn dein Chef auftaucht und uns in seinem Büro erwischt?» – «Mamma», erklärte ich ihr, «ich bin hier der Chef.» «Jesses, du bist das geworden? Das glaub’ ich ja nicht!»

Sie haben ein inniges Verhältnis zu Ihrer Tochter Corinne und zu Ihrer Enkelin Selena. Leiden die beiden auch unter dem Druck, unter dem Sie stehen?
Mehr als ich. Es ist eine grosse Ungerechtigkeit, dass meine Familie unter der Kampagne, die gegen mich geführt wird, leiden muss. Meiner Enkelin, die im Februar 16 wird, ging das Ganze anfänglich etwas weniger unter die Haut – bis sie dann in Sitten in der Schule gemobbt wurde. Mitschüler hielten ihr abschätzige Artikel über mich unter die Nase mit den Worten: «Schau mal, was für einer dein Grossvater ist.» Ich habe ihr die Situation erklärt und gesagt, in der Welt des Fussballs kämpfe man mit harten Bandagen. Sie wollte trotz des Mobbings weiter in Sitten zur Schule gehen, doch ihre Mutter bestand darauf, dass sie die Schule wechselt und zurück nach Visp kommt. Mein «Stärnli», wie ich sie nenne, macht übrigens Karate. Ihre Gruppe in Visp errang an der Karate-Schweizermeisterschaft vor wenigen Monaten den zweiten Platz.

Vielleicht macht sie Karate, damit sie lernt, sich besser zu verteidigen als ihr Grossvater?
(Lachend) Das könnte sein – und es wäre ein kluger Entscheid.

Was bedeutet Ihnen Liebe?
Leider realisierte ich erst vor einiger Zeit, was wirkliche Liebe ist. Denn in all den Berufen, die ich ausgeübt habe, bin ich immer total aufgegangen. Ich wurde nach dem Grundsatz erzogen: «Wenn etwas es wert ist, gemacht zu werden, ist es auch wert, richtig gut gemacht zu werden.» Das verlangt vollen Einsatz. Erst nach meinem Zusammenbruch auf dem Friedhof in Visp wurde mir klar: Gesundheit ist das Wichtigste, dann kommt die Familie, und das Dritte ist ebenso wichtig: die Liebe. Jeder Mensch braucht jemanden, an den er sich anlehnen und ihm vertrauen kann.

Kam diese Einsicht nicht etwas spät?
Stimmt, aber besser spät als nie. Meine Tochter kritisierte mich früher, ich arbeite zu hart. Ich sei halt mit der Fifa verheiratet, brachte ich zu meiner Entschuldigung vor. «Du bist aber nicht mit ihr verheiratet», entgegnete sie. «Du kannst mir sagen, die Fifa sei deine Geliebte. Damit kann ich leben.»

Vor wenigen Jahren haben Sie eine neue Liebe gefunden.
Ja, und meine «Lady», wie ich Linda Gabrielian nenne, erwidert meine Liebe. Das ist ein herrliches Gefühl.

Läuten bald die Hochzeitsglocken?
Das wird die Zukunft weisen. Wir lieben uns. Sie ist eine unabhängige Frau und lebt in Genf, ich bin ein unabhängiger Mann und lebe in Zürich.

Ihre «Herzdame» ist einiges jünger als Sie.
Das stört uns nicht. Als ich sie auf unsere Altersdifferenz ansprach, meinte sie lächelnd: «Tu ne parles pas de l’âge et moi jamais de mariage.» Du sprichst nie über das Alter und ich nie über Heirat.

Linda nennt Sie liebevoll «Gigi». Wie kam sie auf diesen Kosenamen?
Sie liess sich inspirieren vom Lied «Gigi l’amoroso» der Sängerin Dalida; «Gigi» ist eine zärtliche Ableitung von Joseph.

Sind Sie immer noch ein begeisterter Tänzer?
Ja. Aber gegenwärtig muss ich wegen einer Rückenoperation pausieren; Spätfolgen von Bierfässern  und Koffern schleppen und zu viel Sport treiben. Ich habe zu meinem Körper nie richtig Sorge getragen.

Finden Sie im Tanz Befreiung?
Ja, Tanzen ist für mich Rhythmus und Ausdruck von Lebensfreude. Manchmal singe ich auch dazu. Als junger Mann war ich in Visp ein gefragter Tänzer. Den Walzer hat mir meine Mamma beigebracht, alle anderen Tänze habe ich nach und nach gelernt. In jungen Jahren war ich auch Conférencier und wurde zu Anlässen von Vereinen oder Privaten gerufen, um die Gäste zu unterhalten.

Sie sind ein gläubiger Mensch. Ist auch der Herrgott ein Fussballfan?
Selbstverständlich. Im Himmel wird sogar Fussball gespielt.

Was Sie nicht sagen!
Ein junger Fussballer reiste nach Rom und fragte den Papst, ob im Himmel Fussball gespielt werde. «Warum willst du das wissen?» –  «Weil ich ein gläubiger Mensch bin.» – «Also gut. Ich halte oft Zwiesprache mit dem Herrgott und werde ihn fragen. Komm’ morgen vorbei.» Gesagt, getan. Der Papst: «Ich habe zwei Nachrichten für dich. Die gute ist: Ja, man spielt im Himmel Fussball. Die schlechte ist: Am nächsten Samstag ist ein Match, und du bist aufgeboten, mitzuspielen.»

Ihr bisheriges Leben war dem Sport gewidmet. Was ist in Zukunft Ihre Mission?
Im Moment fahre ich auf zwei Schienen: Ich halte Vorträge über Themen wie Politik, Wirtschaft und Kultur mit anschliessender Diskussion. Die zweite ist: Ich werde weitere Bücher schreiben und meine Erfahrungen im Leben darin verarbeiten.

2017-07-sepp-blatter-b

Macht und Ohnmacht

Joseph S. Blatter kam am 10. März 1936 in Visp zur Welt. 1975 heuerte er bei der Fifa als Entwicklungsdirektor an und machte Karriere: 1981 Generalsekretär und 1998 Fifa-Präsident. Unter Blatters Führung wurde aus dem Verband ein Riese mit Milliardenumsatz. Zahlreiche Skandale erschütterten die Fifa und Blatter wurde für alles verantwortlich gemacht. Im Herbst 2015 wurde er von der Ethikkommission der Fifa suspendiert und für sechs Jahre gesperrt, später wurde die Strafe vom Internationalen Sportgerichtshof bestätigt. Seither kämpft er um seine Rehabilitierung. Im Werd Verlag erschien kürzlich das Buch «Sepp Blatter – Mission & Passion Fussball».

2017-07-cover_sepp_blatter