«Raphael ist mein ruhender Pol»

Trotz seines jungen Lebens hat der Ex-Kunstturner schon viel durchgemacht. Sein Bruder war immer an seiner Seite, erdet ihn und gibt ihm auch auf seinem neuen Weg Rückhalt.

Schwankt er nicht ein bisschen? Er wird doch nicht  etwa in die Aare plumpsen? Schnell ein kleines Stossgebet zum Himmel! Aber Lucas Fischer (26) hat alles im Griff, als er sich in Thun – schwuppdiwupp – im Spagat auf das dünne Geländer setzt. «Kein Problem», meint der ehemalige Kunstturner grinsend und stützt sich zur Sicherheit an seinem Bruder Raphael (28) ab, der ihn in Thun besucht.

Der Jüngere zeigt dem Älteren, wo er zu Hause ist . «Ich fühle mich pudelwohl hier», erzählt er während der Stadtführung, die allerdings kurz ausfällt: Lucas muss zurück an die Arbeit. Er hat bei den Thunerseespielen eine Rolle im Musical «Cats» ergattert, probt in jeder freien Minute. Trotz des «hohen Besuches» kommt kein Wörtchen des Bedauerns über seine Lippen. Im Gegenteil: Er freut sich und stellt Raphael bei der Gelegenheit gleich seinen Kollegen vor. Darauf angesprochen, ob er gut in der Künstlertruppe aufgenommen wurde, sprudelt es regelrecht aus ihm hinaus: «Meeega, es ist ein Traum, der Hammer», schwärmt er, und sein Strahlen lässt keine Zweifel an seiner ehrlichen Begeisterung. «Hier akzeptiert jeder den anderen genau so, wie er ist, man unterstützt sich gegenseitig. Das ist etwas, was ich vom Kunstturnen so nicht kenne.»

Kunstturnen: Lange war das seine Welt, sein Lebensinhalt. Aber es forderte auch viel von ihm, wie er in seinem Buch «Tigerherz» beschreibt: In der Schule war er oft aussen vor, weil er ständig trainieren musste; im Leistungszentrum Magglingen fühlte er sich als Aussenseiter, weil er anders war als die anderen – emotional, quirlig. Dennoch: Der Sport war sein Glück, der Gewinn der Silbermedaille an der EM 2013 in Russland die Erfüllung eines Traumes. Unter Tränen trat er 2015 wegen epileptischer Anfälle und Verletzungen zurück. «Ich kann nicht mehr», meinte er. Daraufhin fiel er in ein tiefes Loch, hatte Depressionen, Ess- und Schlafstörungen. 

Doch in der vermeintlich zarten Hülle steckt ein Kämpfer, der nie aufgibt. Er entwickelte seine eigene «Lucas Fischer Show» mit Akrobatik, Tanz und Gesang, sein Engagement bei «Cats» ist die Krönung. «Ich konnte es kaum fassen, musste das E-Mail mit der Anfrage fünfmal lesen, bis ich es glauben konnte, ich war völlig überwältigt.» Seine Eltern waren die Ersten, die davon erfuhren, und natürlich Raphael. «Er ist eine wichtige Bezugsperson für mich», erzählt Lucas. «Auch als ich mein Tief hatte, wusste ich, dass er jederzeit für mich da war, ich ihn um Rat fragen konnte.»

Für beide ist es selbstverständlich, den anderen nie im Stich zu lassen. Raphael: «Wir haben beide einen grossen Familiensinn, sind gerne mit der Familie zusammen und schauen, dass es allen gut geht.» Da enden die Ähnlichkeiten aber auch schon: Die zwei sind grundverschieden. Während es Lucas ins Rampenlicht zieht, präsentiert sich sein Bruder nicht gerne, ist – nach eigener Aussage – weniger sensibel und zurückhaltender. «Raphael ist mein ruhender Pol, erdet mich», sagt Lucas. «Von seiner Gelassenheit würde ich mir manchmal gerne eine Scheibe abschneiden. Er muss nicht immer auf Draht sein, alles noch etwas besser machen wollen, kann auch einfach mal sein und geniessen.»

Umgekehrt bewundert Raphael, der derzeit als Verkäufer für Sportartikel arbeitet, die Zielstrebigkeit seines jüngeren Bruders. Aber vielleicht ist es für den Frieden ganz gut, dass nur einer der beiden sie hat – sonst hätte es früher vielleicht häufiger gekracht. Denn genau wie die Eltern und Lucas war auch Raphael Kunstturner, aber weniger ambitioniert als sein
Bruder, und er hörte mit 18 aus körperlichen Gründen auf, wie er erzählt. «Natürlich: Als mich Lucas mit 12 oder 13 irgendwann überholte, fand ich das schon nicht supertoll. Aber das musste ich halt akzeptieren. Was will man auch machen?», meint er lachend. «Ich bin stolz auf ihn.»

Genauso gehe es ihren Eltern, und natürlich haben alle Lucas schon auf der «Cats»-Bühne bewundert. Der freut sich: «Diesen Rückhalt zu haben, ist wunderschön, zumal mir das alles so viel bedeutet. Ich bin so glücklich, dass ich diesen neuen Weg gehen kann.»