Nellas trauriger Abschied

Ein letztes Mal wollte die unheilbar an Krebs erkrankte Tessinerin ihrer Heimat Lebewohl sagen. Es war ein Besuch, bei dem die Tränen flossen. Und sogar der Himmel weinte mit.

An den Gestaden des Lago Maggiore ist es warm an diesem herrlichen Frühherbst-Abend. Im Garten des Ristorante Gabietta in Brissago trifft sich Nella Martinetti (63) mit ihrer Familie zum Apéro. Wirtin Roberta war einst eines ihrer Lieblingskinder, als Nella in Brissago noch als Kindergärtnerin arbeitete. Mit Roberta gibt es ein ebenso herzliches Wiedersehen wie mit Nellas Bruder Mauro, dessen Frau Barbara und deren zwei Kindern Mattia (26) und Mascia (22). Mauros 10jähriger Enkel Davide sieht Tante Nella bewundernd an und staunt über die vielen Pillen, die sie vor dem Abendessen einnehmen muss.

«Vor zwei Jahren war ich zuletzt in Brissago. Auch früher schon besuchte ich meine Heimat höchstens alle paar Jahre. Es ist dort halt einfach nicht mehr so schön wie einst», sagt Nella wehmütig. «Damals standen die Leute noch bis zehn Uhr abends oder länger auf dem Dorfplatz zusammen, die Touristen von den Campingplätzen mischten sich unter die Einheimischen, es herrschte allabendlich ein reges Treiben. Die Geschäfte waren noch offen, in den Restaurants und Cafés wurde getanzt, auch zu unserer Musik. Brissago früher – das war Lebensfreude pur.»

Vater, Mutter, Bruder, Nella: Alle haben Musik gemacht, gesungen und die Leute unterhalten. Im Duo hat Nella E-Gitarre gespielt und gesungen, Mauro sass am Schlagzeug. Mal im Garten ihres Eltern-Hauses, mal in der Osteria Borei oben auf dem Berg. In Brissago waren die Martinetti-Kinder bekannt wie bunte Hunde. Das ist auch heute noch so. «Ciao, Nella», hier, «Salve, Nella» da, «come va?». Meistens kennt Nella die Leute beim Namen, und wenn nicht, will sie wissen, wer sie sind. Natürlich haben alle von ihrer schweren Krankheit gelesen, sprechen ihr Mut zu.

Wie war denn Nella als Kind? Bruder Mauro zögert. «Fantastica », lacht er. «Na ja, man kann sagen, dass sie schon als Kind sehr speziell war.» Nella, die sich mit grossem Appetit an den Antipasti zu schaffen macht, knufft ihn in die Seite. Mauro lässt sich nicht stoppen. «Ich denke, sie war ausser jeder Norm. Sie hatte viel Mut, auch vor jeder Art von Publikum aufzutreten. Vor allem neue Situationen reizten sie. Sie machte einfach alles aus dem Bauch heraus.»

Hatte Mauro vor etwas Bammel, nahm Nella den drei Jahre jüngeren Bruder bei der Hand. «Das machte mir Mut.» Weil die Martinettis mausarm waren, musste die Mutter arbeiten und Nella für Mauro Zmittag kochen. «Am liebsten hatte er Risotto und Servela in Sauce mit Pasta», lächelt sie verträumt. Heute sind Nella und Mauro ein Herz und eine Seele. In all den Jahren, als Nella längst in der Deutschschweiz wohnte, telefonieren die beiden mindestens einmal wöchentlich.

Am Sonntag in der Kirche konnte man jeweils eine ganz andere Nella antreffen: die Organistin. «Manchmal musste ich am Sonntag sogar zu zwei Messen orgeln», erzählt sie. Heute in der Kirche ist Nella sehr nachdenklich. Sie kniet sich in die Bank und hält inne. Ihre Gedanken möchte sie nicht preisgeben. Religion ist für sie ein heikles Thema. Vor allem jetzt, im Angesicht des Todes. Nella ist müde, braucht eine Atempause. Auf den ersten Blick scheint sie guter Dinge. Hinter dieser Fassade freilich sieht es ganz anders aus. Schmerzen, Morphium, wieder Schmerzen, Pillen und dazwischen die immergleiche Frage: Wie lange noch macht der Körper diese Torturen mit? Beim Herausgehen bekreuzigt sie sich mit Weihwasser.

Im grossen Kiosk auf dem Hauptplatz trifft Nella ihre ehemaligen Arbeitgeber Regula und Giancarlo Kuchler. Dort hat Nella als Studentin drei Jahre im Sommer ausgeholfen. Der Deutschschweizer ist auch Bürgermeister von Brissago. Nella findet eine Ansichtskarte von Anfang der 60er Jahre. Im Vordergrund von Brissago ein 16jähriges Mädchen mit kurzem Röckchen und gelbem Strohhut: Nella. Sie lacht. «Diese Karte mit meinem Konterfei ist damals super gelaufen. Ich habe den Käufern aber nicht gesagt, dass ich das auf dem Bild bin.» Natürlich lässt sie es sich nicht nehmen, einer Kundin persönlich das letzte Exemplar der aktuellen GlücksPost zu verkaufen.

Ein Wiedersehen gibt es auch in der Osteria Borei: Die Tochter ihrer einstigen Busenfreundin Fiorella serviert frische Rustica-Polenta mit Brasato. Fiorella ist leider nicht da, nur deren Bruder Sergio. Einige Gäste kennen Nella, kommen an den Tisch, erkundigen sich nach ihrem Befinden. Das sind Momente, die Nella an ihr tragisches Schicksal erinnern, sie nachdenklich und traurig machen. Auch für Nella Martinetti gilt: Die Hoffnung stirbt zuletzt. «Ich bete zu Gott», sagt sie und seufzt leise, «ich bete zu Gott, dass ich wenigstens noch die nächsten Weihnachten erleben darf.»
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