«Mein Grab wartet schon auf mich»

Ein Wunder? Ärztliche Kunst? Eiserner Überlebenswille? Laut der Krebsdiagnose müsste die Tessinerin längst nicht mehr leben. Doch jetzt hat sie die Chemotherapie abrupt abgebrochen und lässt der Krankheit ihren tödlichen Verlauf.

 

Ihre Stimme klingt müde, ihre Augen blicken traurig und leer. Kein Vergleich mehr mit der früheren, kämpferischen Nella Martinetti (65). Sie hat das Spital Männedorf, wo sie sich wegen Metastasen in der Leber einmal mehr einer Chemotherapie unterziehen musste, vor ein paar Tagen auf eigene Verantwortung verlassen. «Ich mag nicht mehr», sagt sie nur. «Es war zu schlimm.» 25 Kilo hat sie in den letzten Monaten abgenommen, die Haare, die durch die Behandlungen dünn und brüchig geworden sind, hat sie verdichtenlassen. Viel lieber ist sie jetzt zu Hause bei ihrer Freundin Marianne, die sich seit Ausbruch der Krebskrankheit liebevoll um sie kümmert. «Sie hat sogar wegen mir kochen gelernt», erzählt Nella. «Ich finde eigentlich gar keine Worte, wie ich ihr danken könnte, für alles, was sie für mich tut.»

Mit der GlücksPost sprach Nella über die letzten Stationen ihres Lebens.

Nella Martinetti über …

… ihren Entschluss, die Chemotherapie abzusetzen

«Ich habe die Chemo abgebrochen. Weil ich drei Tage und drei Nächte lang die Hölle gesehen habe. Jetzt fühle ich mich erleichtert, lasse mich gehen, so wie das Schicksal es will, wie der Fluss fliesst. Ich nehme es in Kauf, bald zu sterben, sterben zu müssen. Die letzte Chemotherapie, das waren die schlimmsten Tage meines Lebens. Wenn die Übelkeit dir die Kehle würgt, wenn du, von Morphium benebelt, nicht mehr klar sprechen kannst und nur noch balla balla im Kopf bist, wenn du nicht mehr gerade gehen kannst, wenn die Psyche runtergeht aufs Minimum, wenn du auf der letzten Stufe der Treppe ganz unten bist, wenn du über 20 Pillen pro Tag nehmen musst und deshalb keinen Appetit mehr hast und auch keine Lust, zu trinken, nicht mal Wasser, weil diese Chemo dich so kaputt macht, dann reicht es. Ich fühle mich lustigerweise ohne irgendwelche Chemo heute besser, obwohl ich miserabel geschlafen habe.»

… ihren Glauben

«Während meiner diversen Spitalaufenthalte der letzten Monate traf ich auch eine Frau Pfarrer. Sie hat die Leute besucht und war hell begeistert von mir. Wir haben viel diskutiert über Gott und das Jenseits. Sie ist eine intelligente Person mit viel Charakter und Persönlichkeit. Als ich sie zum ersten Mal sah, fragte ich gleich: ‹Kommen Sie, um mich zu konvertieren? Vergessen sie das!› Sie hat dann gelacht. Aber ich brauche keine theologische Begleitung zum Sterben. Ich bete, klar. Aber nicht zu diesem Gott mit dem weissen Bart. Ich bete an die Macht, die uns erschaffen hat.»

… ihre Beerdigung

«Auf dem Friedhof von Brissago, direkt am See, habe ich mir jetzt ein Urnengrab gekauft. Ein ganz simples. Brissago ist mein Dorf, meine Heimat, ich bin dort geboren, und meine Eltern sind dort begraben. In Brissago verbrachte ich die schönste Zeit meines Lebens. Meine Beerdigung, wenn meine Asche dort deponiert wird, soll eine ganz schlichte, kleine Zeremonie sein, ja nichts Pompöses.»

… das Sterben und den Tod

«Egal, wann der Tod kommt, ich empfange ihn. Sterben müssen wir sowieso alle. Ich konnte65Jahre leben, und das dürfte ja auch reichen. Wenn ich an junge Leute denke, die mit 26 Jahren Krebs haben und gehen müssen…Wenn ich sterbe, möchte ich nur Marianne an meinem Bett haben.»

… ihre Freundin Marianne

«Wenn ich Marianne nicht an meiner Seite gehabt hätte all die Jahre, dann hätte ich das nie und nimmer durchgestanden. Allein schon die Vorbereitung der vielen Pillen; dafür hätte ich die Spitex gebraucht. Ich bin total auf Marianne angewiesen.»

… ihre letzten Wünsche

«Ich habe nur eine ganz grosse Hoffnung: dass es keine Reinkarnation gibt, keine Wiedergeburt. Ich möchte nicht nochmals auf diese Erde zurückkommen müssen. Ich habe mein Leben lang mehr geweint als gelacht. Ich weiss, dass es anders scheint, weil ich mit meinem lustigen Gesicht und mit meinen Liedern viele Menschen zum Lachen gebracht habe. Die Leute lachen auch dann, wenn ich ihnen auf der Strasse begegne. Aber all diese Menschen sollten wissen, wie viele Tränen ich in meinem Leben vergossen habe. Ich fühle mich viel ruhiger, bin längst nicht mehr diese Puppe, die getanzt hat zum Vergnügen der Leute. Ich habe ja auch noch eine andere unheilbare Krankheit, die Fibromyalgie, die mir täglich irrsinnige Schmerzen macht. Das Gehen wird immer prekärer. Dass ich zuweilen im Rollstuhl sitzen muss, hat damit zu tun, nicht mit dem Krebs. Für mich zählt jetzt nur noch eines: mein Kreis von Freundinnen, mein Harem, wie ich jeweils sage. Die helfen mir und schauen, dass ich keinen Tag allein bin, immer Besuch habe, immer am Telefon mit ihnen reden kann und nicht alleine bin, nicht traurig und depressiv. Trotzdem habe ich manchmal Depressionen. Wenn diese ganz schlimm sind, muss ich im Bett bleiben, kann mich nicht mal aufraffen, aufzustehen. Ich schaue dann auch kein Fernsehen. Musik hören kommt auch nicht mehr in Frage.Weil dann die Erinnerungen an meine Jugend und meine Leute kommen, und leider auch an meine grosse Liebe.»

… ihre Hoffnung

«Ich habe mit mir meinen Frieden gemacht. Ich strahle eine totale Ruhe aus. So fühle ich mich auch, seit ich die Chemo abgesetzt habe. Das war mein bester Entschluss, ich fühle mich befreit, bin bereit, zu sterben, aber das muss nicht morgen sein. Es gibt viele Leute, die auch mit Metastasen überleben. Es gibt sogar eine neue Methode mit dem Laser. Die gilt aber nur für Krebsgeschwüre, die 5 cm gross sind. Aber meiner in der Leber ist bedeutend grösser. Aber wie sagt man doch: Die Hoffnung stirbt zuletzt.