Mit den Jahren Kölner geworden

Die Zeit der «Lindenstrasse» neigt sich ihrem Ende zu. Für den Schweizer Schauspieler schliesst sich damit ein langes Kapitel seines Lebens. Doch er bleibt in Köln und freut sich auf Neues.

Kein Lüftchen bewegt die flirrende Hitze an diesem Tag Ende Juli. In den Fernsehstudios am Rande von Köln, wo seit 34 Jahren die ARD-Kult-Serie «Lindenstrasse» produziert wird, sitzt Joris Gratwohl im Hof vor der Kantine und wartet seit zwei Stunden auf seinen Auftritt. Wir warten mit und staunen: Niemand regt sich auf wegen der Verspätung. Drehplan-Änderungen gehören zum Job, und zudem sind wir hier in Köln. Mehr dazu später. Immer wieder setzen sich Kollegen dazu, um eine Zigarette zu rauchen, einen Kaffee zu trinken.

Dann endlich steht der Schweizer, der seit November 2000 die Figur des Alex Behrend spielt, mit Marie-Luise Marjan (78) alias Mutter Beimer für eine Szene vor der Kamera. Joris läuft der Schweiss an den Schläfen runter. Sie spielen November – im Hochsommer bei 39 Grad im Schatten – und er muss Pullover und Jacke anziehen. «Schlimmer finde ich, wenn wir bei Tiefsttemparaturen Sommer spielen müssen», meint der 46-Jährige gelassen. Dazu wird es wohl nicht mehr kommen. Im Dezember sind die letzten gemeinsamen Drehtage für dieses über Jahrzehnte zusammengesetzte, eingespielte Team. Im TV ist die «Lindenstrasse» bis Ende März 2020 zu sehen.

Joris und Marie-Luise verstehen sich gut. Sie legt ihren Arm um seine Schulter und sagt mit Anspielung auf die Geschichte ihrer «Lindenstrasse»-Charaktere: «Er war einmal mein Angestellter, da bin ich heute noch ganz stolz.» Werden sie einander vermissen? Oh ja! «So etwas wie dies hier findest du nicht so schnell wieder», meint Joris. «Wir sind alle so oft zusammen, da gibt es enge Bindungen. Versprechen, die man sich nach einem gemeinsamen Dreh schnell mal gibt wie: ‹Wir müssen uns unbedingt wieder sehen›, die sind hier ernst gemeint.» So lädt er seine Kollegin denn gleich zur Premiere seines neuen Theaterstücks «In der Mitte» ein, das im Dezember in Köln Premiere feiert. «Ich zähle auf dich, du musst da Stimmung machen! Ich lege dir dafür den roten Teppich aus.» Lachen.

Noch fühlt es sich nicht so an, als seien die Leute hier beim Endspurt. «Wir sind ja noch voll am Arbeiten», erklärt Joris. «Aber jetzt kommen Dinge wie der letzte Dreh mit einem bestimmten Regisseur oder ein Kollege verabschiedet sich. Da wird man schon etwas demütig und dankbar, dass man das miterleben durfte.»

Ende der Woche geht die «Lindenstrasse»-Crew in die Sommer-Drehpause. Am Fernsehen startet in dieser Zeit eine neue Staffel (ab 11. 8., sonntags, ARD). Joris möchte ein paar Tage seiner Ferien in der Schweiz verbringen. Das letzte Mal war er an Weihnachten da. Er fährt jeweils mit dem Zug von seiner Wahlheimat Köln nach Winznau SO, wo er aufgewachsen ist. «Das ist der Moment, in dem ich mich entspanne: Wenn es plötzlich statt ‹Fahrscheinkontrolle!› heisst: ‹Grüezi, dörf i Ihres Billiet gseh?›», erzählt der Schauspieler.

Ein Zurück in die Schweiz ist allerdings kein Thema. «Mein ganzes Umfeld ist hier.» Und er sei mit den Jahren doch auch zum Kölner geworden. «Anfangs war es natürlich nicht einfach. Doch die Leute hier sind sehr zugänglich und kommen auf dich zu. Ich mag das, alles ist liberal und offen.» Inzwischen macht er auch leidenschaftlich mit beim Kölner Karneval. «Wenn du wie ich in der Südstadt wohnst, bist du entweder dabei oder ziehst weg während dieser Tage.» Die fünfte Jahreszeit bedeutet für sein Quartier den Ausnahmezustand. Ganz prinzipiell habe er sich die selbstauferlegten Grundgesetze der Metropole angeeignet. Dazu gehören: «Et es wie et es», «Et kütt wie et kütt» oder «Et bliev nix wie et wor» («Es ist, wie es ist», «Es kommt, wie es kommt», «Es bleibt nichts, wie es war»).

Entsprechend reagiert er auf die obligate Frage, was nach der «Lindenstrasse» kommt und ob er sich davor fürchtet, nach so vielen Jahren nicht mehr «festangestellt» zu sein. «Das gibt es in jedem Job. So bleibt man in Bewegung, man muss einfach die Unsicherheit aushalten.» Es gäbe einige Anfragen und Projekte, die aber nicht alle spruchreif seien. Neben seinem neuen will er sein erstes Theaterstück «Die glorreichen Zwei» von 2011 wieder aufnehmen. Beide stammen aus seiner Feder. Er schreibt viel: «Ich habe ein Konzept für eine Serie gemacht. Und arbeite an einem Buch als Erweiterung des Stücks ‹In der Mitte›. Diese Sachen brauchen Selbstdisziplin, was nicht meine grosse Stärke ist», gesteht er lachend. «Das Wichtigste ist eine innere Grundgelassenheit. Irgendwas kommt immer.»

In der langen Zeit in Deutschland habe er gelernt, sich durchzusetzen. «Es brauchte seine Zeit. Schweizer ticken anders, sind genügsamer, fühlen sich sprachlich den Deutschen oft unterlegen. Das konnte ich ablegen.» Nach Feierabend geht er, ganz der Kölner, in seine Lieblingsbar und trinkt ein «Kölsch». «Ich brauchte 18 Jahre, bis ich gemerkt habe, dass ich davon keinen Kater bekomme», sagt er prostend. «Es söll gälte.» Das sage sein Vater immer. Ein paar Schweizer Eigenschaften sind also geblieben.