«Kevin durfte nie ein normales Kind sein»

Zehn Jahre nach dem Mord an ihren beiden Kindern ist für die Mutter von Ex-Skistar Corinne Rey-Bellet das Schlimmste überstanden. Ihr Enkel darf sie jetzt endlich ohne Aufpasser besuchen.

Das Drama schockierte die ganze Schweiz. Vor zehn Jahren, am Abend des 30. April 2006, erschoss Gerold Stadler seine Frau, die Skirennfahrerin Corinne Rey-Bellet und deren Bruder Alain in der Küche des Chalets der Familie Rey-Bellet in Les Crosets VS ob Aigle. Seine Schwiegermutter Verena Rey-Bellet (70) streckte er mit fünf Schüssen nieder. Sie überlebte schwer verletzt. Zwei Tage später erschoss sich Stadler mit seiner Armee-Pistole. Von einem Tag auf den anderen wurde Kevin, heute zwölf Jahre alt, Vollwaise.

Als ob die Familie Rey-Bellet mit dem Verlust ihrer beiden einzigen Kinder nicht genug gelitten hätte, ging das Drama für die nächsten acht Jahre weiter. Der kleine Kevin durfte nicht bei seinen Grosseltern bleiben. Er wurde in eine Pflege­familie gegeben, die ganz in der Nähe wohnt. Das wäre eigentlich nicht weiter schlimm gewesen. Nur: Verena und ihr Mann Adrien Rey-Bellet durften ihren Enkel kaum mehr sehen.

«Kevin durfte nie ein normales Kind sein», klagt Verena Rey-­Bellet zehn Jahre nach dem Drama. Die Vormundschaftsbehörde in St. Gallen – Corinne wohnte mit Mann und Sohn in Abtwil bei St. Gallen – stellte sich dauernd quer und versuchte, Kevin von den Gross­eltern Rey-Bellet fernzuhalten. «Ende 2006 wurde Kevin in die Pflegefamilie gegeben, weil die auch Kinder haben. Sechs Monate durfte er weder zu uns noch zu den Grosseltern Stadler nach St. Gallen gehen, damit er sich in seine neue Familie eingliedern könne», so Verena Rey-Bellet weiter.

In ihrer Not wandten sich die Rey-Bellets an das Portal «Porte Bonheur» von André Marty, der sich für Kinder in solchen Situationen einsetzt. Corinne Rey-Bellet war eine der Patinnen des Portals. Selbst Oscar Freysinger setzte sich im Nationalrat mit einer Motion für mehr Rechte für Grosseltern ein. Die Motion wurde abgelehnt. Der Kompromiss hiess schliesslich, dass Kevin alle drei Wochen für drei Stunden am Mittwochnachmittag zu seinen Grosseltern dürfe, aber nur in Begleitung einer neutralen erwachsenen Person. 2011 wurde das endlich aufgehoben und Kevin durfte ohne Begleitung kommen.

«Er stellte immer wieder viele Fragen», erinnert sich Oma Verena. «‹Wo ist Mami?› – ‹Sie ist im Himmel.› – ‹Warum ist Mami im Himmel?› – ‹Der Papi wollte es so.› Nach längerer Pause: ‹Ich will, dass Mami wieder vom Himmel kommt.› Nach einem Monat: ‹Ich will jetzt auch in den Himmel zu Mami.› Wir gaben ihm – gegen den Rat der Behörden – immer Antworten.»

Behördenwillkür und Unverständnis für ihren Enkel machen Verena Rey-Bellet noch heute sehr zu schaffen. «Die Entscheidungen der Behörden und zuständigen Psychiater bleiben mir bis heute völlig unverständlich. So musste Kevin zum Beispiel beim Skifahren an unserem Haus vorbeifahren, ohne mit uns Kontakt aufnehmen zu dürfen. Ich lernte mit den seelischen Schmerzen zu leben. Mein Mann starb vor Kummer an gebrochenem Herzen.» Das Schlimmste für Oma Rey-Bellet: «Man hörte nie auf Kevin, der Bub wurde nie ernst genommen. Nie ist jemand auf ihn eingegangen. Für mich war Kevins Situation nicht besser als jene von Verdingkindern vor Jahrzehnten.»

Heute ist Kevin in einem Internat. Zurzeit ist er für eine Woche in den Ferien bei seiner Grossmutter, wo er schon immer ein eigenes Zimmer hat. «Er ist sehr selbstbewusst, spielt Fussball, fährt Ski und möchte eines Tages Pilot werden.» Doch ein Happy End?