«Ich glaube fest daran, meinen Sohn wiederzusehen»

Es ist der Ort, der ihm Ruhe, Zuversicht und Kraft schenkt: das abgeschiedene Gasterntal ob Kandersteg. Der Alt-Bundesrat zeigt uns den Naturschatz, der ihn zudem oft tröstete – so auch über den Verlust von Sohn Mathias.

Mein Zug ist 20 Minuten zu früh in Kandersteg. Zu meiner Überraschung wartet Dölf Ogi bereits, plaudert mit dem Fotografen. Später wird mir bewusst, dass das kein Zufall war: Der Alt-Bundesrat wusste genau, wann ich ankomme, und hat sich darauf eingestellt. Ohne es zu erwähnen. So steuert er von uns unbemerkt im Hintergrund unseren ganzen Ausflug.

Trotz vollem Kalender nimmt sich der 78-Jährige einen ganzen Nachmittag Zeit. Wir begleiten ihn ins Gasterntal ob Kandersteg. Dies ist sein Ruhe- und Kraftort, den er schon unzählige Male durchstreift hat. Im eben erschienenen Buch «Lieblingsorte: Dölf Ogi im wildromantischen Gasteretal» verwebt Autorin Andrea Fischbacher geschickt die Biographie des Kanderstegers mit der Geschichte seiner Heimat. Hier verbringt das Ehepaar Ogi Sommer und Winter je zwei Monate. Ansonsten wohnen sie in Fraubrunnen BE, wo Ogis Frau Katrin (74) herkommt.

Der Bergführersohn hat einen langen Wanderstab bei sich, den er eher trägt, als dass er sich darauf stützt. Sein Vater habe ihm den vermacht, erklärt er. «Ich stelle mir immer vor, wie er als Förster damit die Wege säuberte und am Wochenende Touristen in die Berge führte, damit ich meinen Abschluss an der Handelsschule machen konnte.» Der verehrte Vater, sein grosses Vorbild, hat sein Leben in mancher Hinsicht geprägt. Er war so vielseitig aktiv wie sein Sohn Dölf: Neben seinen Hauptberufen Förster und Bergführer war er unter anderem Gemeindepräsident.

Der Wanderstab sollte an Dölf Ogis einzigen Sohn Mathias (†2009) weitervererbt werden. Dieser starb mit 35 Jahren an Krebs. Ein Schicksalsschlag, über den er nie hinwegkommen werde, meint der Vater gefasst. Seine Frau Katrin hatte grössere Schwierigkeiten, den Verlust zu verarbeiten. «Doch heute geht es ihr besser.» Dass
Katrin Ogi viel mehr litt, liegt auf der Hand: «Seit ich 1979 Direktor des Schweizer Skiverbands wurde, war ich ständig weg. Katrin hat unsere Kinder aufgezogen, und das hat sie sehr gut gemacht. Ich bin ihr bis heute dankbar dafür.»

Das Försterutensil wird nun Ogis Tochter Caroline (45) erhalten. Sie ist eine erfolgreiche Hotelière, arbeitet in den besten Häusern der Schweiz. Der Vater zählt stolz ihre beruflichen Stationen auf. «Caroline ist wie ich: Sie packt an und geht gerne bergsteigen und wandern.» Der Stab sei perfekt für sie.

Nach einem Kaffee in Kandersteg müssen wir aufbrechen: Es gibt jede Stunde nur ein Zeitfenster von 20 Minuten, um mit dem Auto ins Gasterntal zu gelangen. Ogi plaudert noch mit Bekannten. Wir werden etwas nervös – vergisst er die Zeit beim Schwatzen? Natürlich nicht. Ein ungeteertes Weglein schlängelt sich den Berg hinauf. Rechts ragt die Felswand weit über die Strasse. Eine Ziegelmauer mit Zierbögen schützt vor dem Abgrund zur Linken. Unter uns tost die Kander über riesige Felsblöcke. Plötzlich wird es ruhig, und das Tal breitet sich in seiner ganzen Schönheit aus. Die Kander fliesst nun still, ohne definiertes Flussbett. Immer wieder sucht sie sich neue Wege, wie ein Waldstück zeigt, das unter Wasser steht. Das Gasterntal ist eine der letzten intakten Auenlandschaften der Schweiz und Unesco-Welterbe.

Immer wieder dirigiert uns unser Bergführer an ausgewählte Stellen, an denen er gerne Fotos machen möchte. «Schaut! Schaut! Seht ihr das Gesicht da im Felsen?», ruft er aufgeregt. Das sei Alt-Bundesrat Otto Stich (†2012), der über den Lötschberg wache, scherzt er.

Stich, damals Vorsteher des Finanzdepartements, bereitete seinem Kollegen schlaflose Nächte, als dieser mit der Neat sein grösstes, milliardenschweres Projekt zu verwirklichen suchte. «Das Budget ist der grösste Diskussionspunkt im Bundesrat, deshalb machte Stich mir das Leben so schwer.» Andere versuchten ebenfalls, ihm Steine in den Weg zu legen. In der Zeit als Bundesrat musste Ogi denn auch mal weinen – aber nie öffentlich. Die Last der Neat auf den Schultern, die ein Erfolg werden musste, brauchte viel Kraft.

Doch er war überzeugt von seinem Plan: «100 Jahre sind wir auf denselben Schienen gefahren. Es war Zeit, neue Wege zu gehen.» Ogis Credo: «I do what I believe in and I believe in what I do.» («Ich tue das, woran ich glaube, und ich glaube an das, was ich tue.») Das Einzige, was ihm der Gegenwind anhaben konnte – neben Tränen und Schlafmangel – waren Nierensteine. «Vier Mal musste ich welche entfernen lassen!» Überdies trafen ihn gemeine Bemerkungen über seinen fehlenden akademischen Hintergrund wie Stichs «Im Bundesrat haben wir sechs Bundesräte und einen Skilehrer». Heute ist der Spruch Kult und bringt Ogi Sympathien ein. «Das Volk stand immer hinter mir und hat die Neat in den Volksabstimmungen angenommen.» Er ist stolz, dass die neue Alpentransversale ohne Finanz- und Bauskandal ein Jahr früher als geplant fertiggestellt wurde.

In solch schwierigen Situationen geht Ogi ins Gasterntal. Um nachzudenken, den Kopf freizubekommen, Antworten zu finden: «Wenn du die riesigen Berge siehst, werden du und deine Probleme ganz klein.» Mehr noch: In der kontemplativen Einsamkeit der Natur finde er stets Ruhe, Lösungen manifestieren sich vor seinem geistigen Auge. Nur eine Frage blieb offen: Warum sein Sohn so früh sterben musste. «Gott meinte es gut mit mir. Es ging immer aufwärts – mit einigen Rückschlägen natürlich. Bis Mathias starb.» Doch der Vater weiss, wo er seinen Sohn findet: im Gasterntal. «Hier spüre ich seine Anwesenheit. Und ich glaube fest daran, dass ich ihn wiedersehe, in einer anderen Welt.» Dölf Ogi sagt von sich, dass er religiös ist: «Ich bete jeden Morgen. Im Yoga-Kopfstand, fünf bis sieben Minuten. Dabei trainiere ich auch mein Gedächtnis, indem ich mir Namen, Orte, Ereignisse des Vortages in Erinnerung rufe.»

Er hat viele Lieblingsplätze in diesem abgeschiedenen Tal, das im Winter ganz abgeschnitten ist von der Aussenwelt. Diese besuchte er auch mit Autorin Fischbacher. Ihre These: Gerade prominente Menschen fühlen sich zu überlieferten Kraft- und Kulturorten hingezogen, beziehen Stärke aus ihnen. «Sie kann ganz genau sagen, wie stark die Schwingungen an einzelnen Flecken sind. Ich spüre die Kraft dieser Orte ebenfalls. Sie sind meine geistige Tankstelle», erläutert Ogi. «Schon mein Vater fühlte es.»

Für den beliebten Magistraten ist der Ort auch so wertvoll, weil hier seine Wurzeln liegen: «Anderswo hätte ich nicht diese Gefühle und würde nicht den gleichen Trost finden.» Daran lässt er die Menschen gern teilhaben. So führte er den ganzen Bundesrat ins Gasterntal, als er 1993 erstmals Bundespräsident war. Und auch seinen Freund, Uno-Generalsekretär Kofi Annan (†2018). Alle hochrangigen Gäste sind verewigt in der Gastern-Bibel aus dem Jahr 1696. Sie wird zuhinterst im Tal in einem Restaurant des Weilers Selden aufbewahrt. Nebenan steht ein altes, verwittertes Haus: «Darin wohnten meine Urgrossmutter und meine Grossmutter.» Er kraxelt auf den Findling davor. Auf dem Stein hat er schon als Kind gespielt.

Es gibt einen Zvieri: Hobelkäse, Brot und Süssmost, Ogi berichtet weiter. «Das war die schönste Aufgabe, die ich je ausführen durfte: Sechs Jahre als Uno-Sonderberater für Sport, im Dienste von Entwicklung und Frieden. Mich für etwas einzusetzen, was unsere aus dem Gleichgewicht geratene Welt besser macht.» Er war direkt Annan unterstellt. «Kofi sagte: Die Jungen müssen einen Bereich haben, in dem sie Fehler machen dürfen, ohne dass es sich auf ihr Leben oder ihre Karriere auswirkt. Und sie müssen auch in den Genuss von Siegen kommen. Das geht nur in der Kunst und im Sport.» Damit fand er bei Ogi ein offenes Ohr.
Dessen Überzeugung: Sport ist eine Lebensschule.

Ogi erinnert sich, wie sie für die Uno in der damals gefährlichsten Stadt der Welt – in Medellin starben jede Nacht acht bis zehn Kinder – Strassenfussball in den Armenvierteln lancierten. Die Vorgaben: In jeder Gruppe mussten zwei Mädchen und drei Buben spielen. Und nicht die Tore zählten, sondern das Verhalten. «Medellins Bürgermeister sagte mir später in Kofis Anwesenheit, dass nicht die Politik, sondern der Sport die Grossstadt sicherer machte.»

Zurück im Dorf sind es noch 45 Minuten, bis mein Zug fährt. Kein Problem, ich habe genug erlebt zum Nachdenken. Doch unser Gastgeber kennt den Fahrplan und führt die Tour ungerührt fort. Er zeigt uns sein Geburtshaus, seine ehemalige Schule – «seine Uni» wie er sie nennt – und die vier Skisprungschanzen, die durch seinen Einsatz gebaut wurden. Es sind Mattenschanzen, die im Sommer und Winter benutzt werden können. «Ich wollte nicht, dass die Nordische Kombination – Langlauf und Skispringen – und das Skispringen bei uns sterben.» Mittwochs und samstags können Kinder hier trainieren. Das notwendige Material stellt Ogis Stiftung «Freude herrscht» zur Verfügung. Sie wurde zum Andenken an Mathias A. Ogi gegründet. Das Ziel: bei Kindern ein gesundes Selbstbewusstsein, körperliche Leistungsfähigkeit, Durchhaltewillen, Lebensfreude und Hilfsbereitschaft zu fördern.

Später, auf der Heimreise, drehe ich einen perfekt gerundeten Granitstein in der Hand. Beim letzten Fotohalt war Ogi spontan zum Ufer der Kander hinabgestiegen. Zurück kam er mit zwei durch das Wasser gestalteten Steinen – und gab mir und dem Fotografen einen. Ich bin gerührt. Steine als Geschenk sind Ogis Markenzeichen. Annan trug seinen Kristall stets auf sich. Auch Ogi hat immer einen Rauchquarz in der Hosentasche. Sein Cousin hat sie in einer geheimen Kristallkluft gestrahlt. Uns schenkte er Granitsteine – über lange Zeit harmonisch geformte und geprägte, solide Brocken. Wie Dölf Ogi selbst.