«Ich, der Glarner Tschingg»

Was tut ein Künstler ohne Live-Auftritte? Die Stimmungskanone machte aus der Not eine Tugend und produzierte ein bewegendes Hörbuch mit neuen Songs über sein früheres Leben in der Schweiz.

Es war einmal in den späten 1950er-Jahren. In Centuripe, einem kleinen Dorf auf Sizilien, schaut Klein Salvo seiner Mamma beim Schuheputzen zu und bemerkt ihre Tränen in den Augen. «Mama, perche piangi? … Warum weinst du?» «Ich bin ganz fest traurig», sagt die Mama, «denn wir werden bald in die Schweiz ziehen.»

Die Schweizer Wirtschaft brummte damals, man suchte neue Arbeitskräfte, und so nutzte Papa Pietro Ingrassia die Gelegenheit, für ein paar Monate in die reiche Schweiz auszuwandern, dort Geld zu verdienen, um dann spätestens nach Ablauf des Touristenvisums nach sechs Monaten wieder zurückzureisen. Er blieb und holte seine Familie ins Glarnerland nach. Diese berührende Geschichte sowie das abenteuerliche Leben im neuen Land erzählt Salvo Ingrassia im urchigsten Glarner Dialekt in seinem ersten Hörbuch: «Salvo, dr Glarner Tschingg». Das Buch mit drei CDs über seine persönlichen Erlebnisse ist laut Salvo «eine Gratwanderung zwischen Nostalgie und Integration. Ich habe mich 25 Jahre durchgeboxt, um Anerkennung gerungen und das aus einem Minderwer­tigkeitsgefühl heraus, mir das Schimpfwort ‹Tschingg› vom Leib zu halten».

Er schaffte es, und er wurde Schweizer. Salvo erinnert sich: «Als ich 1978 den roten Pass mit dem Kreuz vor dem Gemeindehaus Glarus durch die Luft schwang, war ich erstaunt, wie wenig sich in der Zeit seit meiner Einreise in die Schweiz 1957 bis zur Einbürgerung 1978 eigentlich geändert hatte – weder an mir selber noch an meiner näheren Umwelt. Ich wurde jetzt einfach vom ‹Tschingg› zum ‹Glarner Tschingg› transformiert.»

«Anfangs wohnten wir Italiener noch in günstigen Zimmern, um am Ende des Monats möglichst viel Geld nach Italien senden zu können. An den Wochenenden traf man sich statt in Restaurants an öffentlichen Plätzen, meistens an Bahnhöfen, wo wir ‹Mora› spielten.» Da die Schweizer das Spiel weder kannten noch verstanden, hörten sie lautstarke, begeisternde Rufe: 5 5 5, auf Italienisch Cinque (sprich: «tschinggwe»). Aufgrund dessen nannte man die Italos bald despektierlich «Tschingge». «Als Schimpfwort wurde dieser Name aber erst mit der Zeit empfunden», erklärt der Sänger.

Salvatore Ingrassia wurde am 7. April 1957 im Alter von fünf Jahren von seinen Eltern in die Schweiz mitgebracht. Der Vater fand schon am Tag nach der Ankunft Arbeit in der Textilfirma Jenny in Schwanden GL für 259.70 Franken im Monat. Klein Salvo, «Salvuccio», wie er genannt wurde, absolvierte alle Schulen im Zigerschlitz und schaffte es sogar bis zum Primarlehrer. Aber das ist nur die eine Seite seines erfolgreichen Aufstiegs. Wie viele junge Italiener damals verschrieb sich auch Salvo schon früh der Musik. Er gründete Schülerbands und Gruppen, die in den Zeiten der Disco­-Music landauf, landab zum Tanz aufspielten. Es kam die Zeit, als man die Musik ernster nahm und damit Erfolg haben wollte. Salvo nahm englische Songs auf und verpflichtete sich seiner grossen Leidenschaft, dem Blues. Bis sich eines Tages das Leben des musizierenden, bekennenden Blues-Liebhabers von Grund auf ändern sollte. Salvo hatte Volksmusiker und Komponist Carlo Brunner kennengelernt. Der rief ihn eines Tages an und sagte: «Ich habe eine Anfrage vom berühmten Schweizer Autor Charles Lewinsky. Er will unbedingt, dass du unser Lied ‹Frau Küenzi› singst.» «Das ist zwar sehr lieb», konterte Salvo. «Doch ich bin eher ein Blueser. Zudem bin ich doch kein Schlager-Fuzzi! Nein, fragt lieber jemand anderen.» Mit ein bisschen Überredungskunst der beiden Autoren sagte Salvo schliesslich doch noch zu, und eine neue Karriere im grossen Stil nahm ihren Lauf.

«Von da an wurde ich überall gebucht, in Festhütten und bei Edel-Anlässen, bei Schwinger-­Events ebenso wie an Open-air-Festivals und verdiente mehr als je zuvor», zieht der Künstler Bilanz. Klar, dass er den Lehrerberuf an den Nagel hängte und nur noch von der Musik leben mochte. Und es funktionierte. Heute gilt der Italo-Glarner als volkstüm­licher Entertainer mit Hit-Erfolgen, der den Blues im Blut aber trotzdem nie vernach­lässigen wollte.

Als es im Corona-Lockdown für den Unterhaltungsstar mit der Zeit eng wurde, hatten seine zwei Töchter Sabrina und Mariella eine Idee: «Produziere doch ein Hörbuch und erzähle deine Geschichte, wie schwer du es anfangs in der Schweiz hattest. Und garniere das Ganze mit neuen Songs.» Salvo war begeistert: Was für eine Super-Idee. Und gesagt, getan! Jetzt ist das Hörbuch da, und die Geschichte des jungen Italieners, der es in der Schweiz zum Star schaffte, ist auf drei CDs mit viel cooler Musik zu hören. Und ja: Salvo darf sich mit Fug und Recht «Glarner Tschingg» nennen. Er ist ebenso stolz auf seine Herkunft wie auf seine neue Heimat.